Back to Gorbatschow oder das «Neue Denken» und das «Gemeinsame Europäische Haus»
von Leo Ensel*
(20. Dezember 2024) Selbst wenn Donald Trump den Ukraine-Krieg tatsächlich noch stoppen sollte, blüht uns unter den gegebenen Bedingungen für die nächsten Jahrzehnte bestenfalls ein neuer Kalter Krieg. Wirklich friedliche Zustände werden in Europa erst herrschen, wenn alle Akteure zu einer europäischen Sicherheitsordnung nach den Prinzipien der «Charta von Paris» zurückfinden. Dafür bedarf es vor allem einer grundlegenden Veränderung des Denkens. Die Maximen sind längst formuliert, es gilt sie wiederzuentdecken.
Die Zeichen im Ukraine-Krieg stehen gegenwärtig auf Sturm und wir befinden uns mittlerweile in der bizarren Lage, nur noch beten zu können, dass Donald Trump sein Versprechen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden, tatsächlich umsetzt – und Wladimir Putin bis dahin die Nerven behält und sich nicht zu Massnahmen provozieren lässt, die eine Kettenreaktion ins Unabsehbare auslösen könnten! Aber auch nach einem Ende der Kampfhandlungen wird Europa sich keineswegs in friedlichen Umständen wiederfinden. Der «Deal» zwischen Trump und Putin wird sehr wahrscheinlich auf eine Teilung der Ukraine, das heisst: auf einen «Frozen Conflict», mit einem Wort: auf einen neuen Kalten Krieg hinauslaufen. Ein Kalter Krieg 2.0, der die Ressourcen aller Seiten erschöpfen und sich endlos hinziehen könnte, falls er nicht früher oder später wieder in einen heissen Krieg umkippt.
Sollen tatsächlich wieder friedliche Zustände in Europa herrschen, die diesen Namen verdienen, bedarf es einer gewaltigen Kraftanstrengung: Alle Akteure – alle! – müssten sich zu nichts weniger als einem Richtungswechsel um 180 Grad aufraffen. Eine grundlegende Voraussetzung hierfür wäre eine Veränderung des Denkens. Und zwar auf allen Seiten. Die gute Nachricht: Das Rad müsste nicht neu erfunden werden. Die Maximen sind längst formuliert, es gilt sie wiederzuentdecken und endlich umzusetzen. Es geht, kurz, um eine Renaissance des «Neuen Denkens»!
Dafür müssen wir uns die Grundbedingungen der atomaren Situation selbst ansehen, in der sich unser Leben – und damit auch der Ukraine-Krieg – seit dem 6. August 1945 abspielt.
Hiroshima als Weltzustand
«Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.»
Dies schrieb am 24. Mai 1946 kein Geringerer als Albert Einstein. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis namhafte Intellektuelle begannen, die Forderung Einsteins einzulösen und die Folgen der Erfindung der Atombombe für die Menschheit, ja für den gesamten Planeten konsequent zu durchdenken und präzise auf den Begriff zu bringen. Einer der ersten war der Philosoph Günther Anders, der in den 1950er Jahren den unerhörten Umstand einer möglichen menschgemachten Apokalypse auf klassische Formulierungen brachte:
«Hiroshima als Weltzustand. Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatag, hat ein neues Zeitalter begonnen. Das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage sind wir auf negative Weise allmächtig geworden. Aber da wir in jedem Augenblick zugleich ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn sein Charakteristikum, die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.»
Was alle treffen kann, betrifft uns alle
Seit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima steht also nichts weniger als das Überleben der Menschheit selbst auf dem Spiel, die sich durch dieses Epochenereignis als Menschheit – wenn auch modo negativo – überhaupt erst konstituiert hat. Günther Anders:
«Denn eines hat sie erreicht, die Bombe: ein Kampf der Menschheit ist es nun. Was Religionen und Philosophien, was Imperien und Revolutionen nicht zustandegebracht haben: uns wirklich zu einer Menschheit zu machen – ihr ist es geglückt. Was alle treffen kann, das betrifft uns alle. Das stürzende Dach wird unser Dach. Als morituri [zum Tode Verurteilte] sind wir nun wir. Zum ersten Male wirklich.»
Die Konsequenz: Da radioaktive Wolken sich um Militärbündnisse, Machtblöcke und Landesgrenzen nicht kümmern und da die heutigen genetischen Mutationen alle kommenden Generationen mitaffizieren, ja die Vernichtung der Menschheit heute sämtliche ungeborenen Generationen mitvernichten würde, gibt es nur noch «Nächste»: im Raum und in der Zeit. Erstmals in der Geschichte der Menschheit gibt es tatsächlich ein alle Klassen-, Religions- und andere Gegensätze überwölbendes Menschheitsinteresse: das Weiterleben als Gattung.
Diese Erkenntnis zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt zu machen und daraus die notwendigen Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen, das ist die Maxime des «Neuen Denkens».
Michail Gorbatschow und das «Neue Denken»
Einen einzigen Chef einer Atommacht hat es bislang gegeben, der auf der Höhe der Zeit war und das «Neue Denken» mit seinen grundlegenden Momenten – Priorität der allgemein menschlichen Interessen als Voraussetzung zur Befriedigung aller übrigen Interessen, Bekämpfung der menschheitsbedrohenden Gefahren (Massenvernichtungsmittel, ökologische Katastrophe) und Verzicht auf Gewalt – nicht nur theoretisch weiter fundierte, sondern in einer ähnlich gefährlichen Situation wie heute in «Neues Handeln» umsetzte: Michail Gorbatschow!
Ausgehend von der Tatsache, «dass die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte sterblich geworden ist und der Charakter der modernen Waffen keinem Staat mehr Hoffnung lässt, sich allein mit militärtechnischen Mitteln, und sei es der allerstärksten, zu verteidigen», gelangte Gorbatschow zu einer Konsequenz, die bis in die Formulierung hinein an Willy Brandts und Olof Palmes Konzept der «Gemeinsamen Sicherheit» anklang:
«Unter den heutigen Bedingungen kann die Sicherheit, vor allem der atomaren Grossmächte, nur gegenseitig und – im globalen Rahmen – nur allumfassend sein. Die Politik der Stärke hat sich grundsätzlich überlebt.» Daraus folgte für ihn das Primat der Politik, sprich: Verhandlungen, Verzicht auf die Methode des «Nullsummenspiels» (mein Gewinn ist dein Verlust) und der Mut, eine Menschheitsvision in ein konkretes Ziel politischen Handelns zu verwandeln: «Der einzig richtige Weg ist die Beseitigung der Atomwaffen, die Reduzierung und Begrenzung der Rüstung überhaupt.»
Am 15. Januar 1986 war die politische Sensation perfekt: Der damalige Generalsekretär der KPdSU verlas eine Erklärung, die in konkreten und realisierbaren Teilinitiativen den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 wies.
Das Ende des (ersten) Kalten Krieges
Und es blieb nicht bei schönen Konzepten: Neues Denken und Neues Handeln bedingten sich gegenseitig. Weil diese Politik mit Hochdruck und konsequent von Gorbatschow vorangetrieben wurde und nun nicht mehr in quantitativen, sondern in qualitativen Kategorien gedacht wurde, gelangen erstmals echte Erfolge auf dem Gebiet der Abrüstung: Der gemeinsamen Erklärung mit Ronald Reagan, ein Atomkrieg könne niemals von einer Seite gewonnen, dürfe daher auch niemals begonnen werden und keine Seite dürfe militärische Vorherrschaft anstreben, folgte u.a. die Verschrottung einer gesamten Waffenkategorie und zwar der Gefährlichsten: sämtlicher landgestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen, die Verringerung strategischer Atomraketen und die Vernichtung von insgesamt 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit.
Und in der im November 1990 von allen europäischen Staaten – inklusive der Sowjetunion, den USA und Kanada – verabschiedeten «Charta von Paris», die das offizielle Ende des Kalten Krieges besiegelte, schien auch Michail Gorbatschows Vision des «Gemeinsamen Hauses Europa» bereits deutlich Konturen anzunehmen. Ihre epochale Maxime lautete:
«Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.»
Damit schien der Weg für ein Zeitalter des Friedens und der Kooperation zwischen Europa und dem restlichen sowjetischen Raum offen.
Für ein «Neues Denken 2.0»
Heute, über drei Jahrzehnte später, finden wir uns stattdessen in einer Situation wieder, von der Fachleute sagen, sie sei gefährlicher als die Kubakrise …
Wenn es überhaupt eine Aussicht auf Abhilfe geben soll, dann wäre die erste Konsequenz, die dramatische Gefahr, in der Europa sich akut befindet, illusionslos zur Kenntnis zu nehmen. Eine Rückbesinnung auf die Prinzipien des Neuen Denkens, eine Aktualisierung im Hinblick auf die gegenwärtige geopolitische Lage, kurz: ein «Neues Denken 2.0», ist heute notwendiger denn je!
Daher nochmal und sei es zum hundertsten Male:
Ein Atomkrieg kennt keinen Gewinner, sondern ausschliesslich Verlierer. Entweder wir schaffen die Atombombe ab oder die Atombombe schafft uns ab! Wer den Frieden will, der muss – in Umkehrung des klassischen lateinischen Sprichwortes – den Frieden vorbereiten. Wir alle – im Westen, in der Ukraine und in Russland – sind zur Deeskalation verurteilt, wenn wir nicht (und womöglich sehr bald) in einen Dritten, vielleicht finalen Weltkrieg hineinschlittern wollen. Nicht zuletzt die Europäische Union muss schnellstmöglich ihren Weg der suizidalen Konfrontation verlassen und endlich das Primat der Diplomatie verfolgen.
Zurück zum «Gemeinsamen Europäischen Haus»
Wollen wir wirklich wieder friedliche Zustände auf unserem Kontinent, so benötigen wir nichts weniger als einen kompletten Reset der europäischen Sicherheitsstruktur, eine neue Entspannungspolitik, einen «Helsinki-Prozess 2.0» und eine Rückkehr zu den Prinzipien der «Charta von Paris». Und dieser Prozess müsste nicht zuletzt in den Köpfen beginnen.
Konkret würde das jetzt und hier für die Menschen in Europa (Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft) – sei es in der EU, sei es in der Ukraine (West und Donbass), sei es in Russland – bedeuten: Wir sollten, gegen die hüben und drüben erdrückend dominierende militaristische Logik, die gegenwärtig völlig verfahrene Lage als Herausforderung sehen, das «Gemeinsame Europäische Haus» trotz, richtiger: wegen der aktuell brandgefährlich zugespitzten Lage endlich wieder als übergreifende Lösungsperspektive anvisieren!
Genauer:
Wir haben jetzt radikal «antizyklisch» zu denken und zu handeln. Und zwar so, als ob das Gorbatschow‘sche «Gemeinsame Europäische Haus» – von Lissabon bis Wladiwostok – bereits existieren würde: Verantwortlich sollten wir uns nicht nur für unser jeweiliges Land, verantwortlich sollten wir alle uns ebenso sehr für dieses unser «Gemeinsames Haus» fühlen!
Und dazu ist eine «Kopernikanische Wende in den Köpfen» geboten. Es gilt zu erkennen und zu verinnerlichen:
Was ein Land, was eine Region innerhalb unseres grossen gesamteuropäischen Raumes trifft, das betrifft uns alle! Jede Zerstörung eines Teils zerstört zugleich unser «Gemeinsames Haus» mit.
In diesem Sinne kann es im aktuellen Krieg in der und um die Ukraine nur «Sieger» geben, wenn nicht nur die Kampfhandlungen – sprich: das Zerstören, das wechselseitige Töten und Sterben – schnellstmöglich beendet werden, sondern alle Akteure nach einem Waffenstillstand und (hoffentlich bald folgendem) Friedensschluss sich wieder auf die genannten Prinzipien der «Charta von Paris» verständigen.
Kurz: Wir müssen zurück zu einem Konzept, das wieder dem Prinzip der «Gemeinsamen Sicherheit» verpflichtet ist.
Wer dies höhnisch als unrealistisch, naiv oder idealistisch abtut, sollte sich auch illusionslos die Alternative vor Augen führen:
Es geht hier nicht um idealistische Schwärmerei, sondern schlicht um das Überlebensinteresse sämtlicher Akteure! Denn sollte sich die Politik der akuten Eskalation noch weiter verschärfen und ihr kein Widerstand entgegengesetzt werden, dann droht ein gewaltiger Krieg in Europa, im schlimmsten Falle ein thermonuklearer Weltkrieg, mit einem Wort: Globozid!
Resignation oder Trägheit können wir uns nicht leisten. Nach wie vor gilt Einsteins Ermahnung:
«Blosses Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt.»
In diesem Sinne also.
* Dr. Leo Ensel ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt «Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa». Veröffentlichungen zu den Themen «Angst und atomare Aufrüstung», zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. |