Digitalisierung und Individualisierung
Eine unheilige Allianz, die Bildung verhindert – 7 Thesen
von Prof. Dr. Jochen Krautz*
(7, Juni 2024) (CH-S) In knappen und treffenden Thesen skizziert der deutsche Pädagoge Jochen Krautz den Widerspruch zwischen Digitalisierung und Bildung.
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Schon vor der Corona-Krise machte sich in den Schulen der Trend breit, dem Problem der Heterogenität der Schülerschaft durch sogenannte «Individualisierung» begegnen zu wollen. Man löst die Klassengemeinschaft faktisch auf und versorgt jede Schülerin, jeden Schüler mit differenzierten Arbeitsaufträgen, die sie «selbstgesteuert» bearbeiten sollen. Ein Irrweg.
Die durch die Corona-Krise beschleunigte Digitalisierung scheint das nun noch einfacher zu machen: Nun kann jeder «individuell» und «selbstgesteuert» an seinem Gerät arbeiten, ob zuhause oder in der Schule.
Beides untergräbt aber die Aufgabe der Schule und gefährdet den verfassungsgemässen Bildungsauftrag. Warum ist das so?
Dazu 7 knappe Thesen:
1. Stärkung der Lehrperson statt «Lernbegleitung»
Heterogenität ist nichts Neues, sondern selbstverständlich. Sie wird nicht durch Auflösen der Lerngruppen und Absenken der Ansprüche gelöst, sondern durch Stärken der Klassengemeinschaft und indem man Schwächere an höhere Levels heranführt. Das aber braucht eine Lehrperson, die die Klasse erzieherisch und fachlich führt. Also das genaue Gegenteil des Trends zum «Lernbegleiter» (vgl. beispielhaft und konkret Rudolph/Leinemann 2021).
2. «Selbststeuerung» ist nicht Selbstständigkeit
Wer nur Arbeitsaufträge von Lernsoftware oder Arbeitsblättern ausführt, entwickelt nicht Selbstständigkeit. Vielmehr steuert er sich nur selbst gemäss den Vorgaben von aussen. Er lernt sich anzupassen, nicht aber selbstständig zu denken und zu argumentieren. Dazu braucht es ein lebendiges und interessiertes menschliches Gegenüber – also Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schüler. Anpassung aber widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen, der auf Mündigkeit zielt.
3. «Individualisierung» ergibt nicht Individualität
Daher bildet äussere «Individualisierung» gerade nicht Individualität, sondern fördert Konformität. Um ein individuelles Selbst zu werden, brauchen junge Menschen sozialen Kontakt, Austausch, Widerspruch und gemeinsam zu bewältigende Herausforderungen. Doch: Die Bildung von Individualität ist pädagogisch herausfordernd, weil Lehrpersonen den Kindern und Jugendlichen als ganze Menschen gegenübertreten müssen, nicht nur als Verwalter von Lernprozessen.
4. Digitalisierung ist Frontalunterricht der üblen Sorte
Gerne grenzen sich Befürworter von «digitalem» und «selbstgesteuertem Lernen» vom «Frontalunterricht» ab. Tatsächlich ist digitales oder analoges «selbstgesteuertes Lernen» Frontalunterricht in übler Reinform, wie er sonst kaum noch vorkommt. Das Arbeitsblatt und der Algorithmus antworten mir nicht, diskutieren nicht, nehmen mich nicht wahr, haben kein Sachverständnis, wissen nicht, was Bildung ist, kennen keine Didaktik und haben keine pädagogische Empathie. Sie regieren über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hinweg – oder besser: in sie hinein.
5. Digitalisierung beruht auf Lobbyarbeit
Die angeblich «alternativlose» Digitalisierung der Schulen hat keine pädagogischen Gründe, sondern banale ökonomische. Sie beruht auf massiver Lobbyarbeit von IT-Industrie und deren Adepten. In der Krisenlage rund um Corona haben Politik, Medien, Eltern und viele Pädagoginnen und Pädagogen die inszenierte Hysterie noch verstärkt. Doch wird Digitalisierung keine pädagogischen Probleme lösen, Unterricht wird dadurch nicht automatisch besser. Vielmehr braucht die sinnvolle Integration der Digitalisierung in die Aufgaben der Schule sehr genaues und klares pädagogisches, didaktisches und fachdidaktisches Denken (vgl. Krautz 2020).
6. Neoliberalismus und Reformpädagogik feiern Hochzeit
Warum aber ist das dann alles so beliebt und scheint so modern? Hier verbinden sich zwei ältere Diskurslinien:
Reformpädagogischem Denken entstammt die Meinung oder auch nur das unbewusste Gefühl, dass die Kinder sich doch lieber «frei entfalten» sollen. Lehren sei irgendwie freiheitswidrig, die Gehalte und Anforderungen unserer Kultur würden die kindliche «Natürlichkeit» negativ beeinflussen. Neoliberalem Denken entstammt die Idee, Lernende seien «Unternehmer ihrer selbst» und würden in den «Lernlandschaften», die aussehen wie Grossraumbüros die «Skills» und «Kompetenzen» erwerben, die sie als flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte bräuchten.
Beides ist sachlich falsch und antipädagogisch gedacht. Beides lässt die Heranwachsenden faktisch im Stich: Einmal werden sie sich selbst überlassen, einmal den Anpassungsimperativen der neoliberalen Ökonomie (vgl. Krautz 2017).
7. Pädagogische Verantwortung ernst nehmen
Was ist der Ausblick? Pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und wieder zu lehren, zu lernen, zu erziehen und zu bilden. Das ist anstrengend, gewiss. Aber wenn wir uns diesen Fragen wieder mit gemeinsamer Kraft zuwenden würden, statt mit haltlosen Konzepten an Kindern und Jugendlichen zu experimentieren, könnten wir diesen und uns selbst das absehbare und bittere Scheitern ersparen.
Literatur zur Vertiefung
Matthias Burchardt. Zwischen Arbeitsblatt und Bildschirm. Neue Lernkultur oder Kaspar-Hauser-Pädagogik? In: Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz, H. 1/2018, Seiten 6–12.
https://www.philologenverband.de/fileadmin/user_upload/Das_Gymnasium/Gymnasium_in_Rh-Pf_1-2018__JR__Endgueltig.pdf
Andreas Gruschka. Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Opladen 2015.
www.bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2015/06/gruschka_bildundgs_rat.pdf
Jochen Krautz. Neoliberaler Ökologismus. «Markt» und «Natur» als Steuerungsparadigmen der «Neuen Lernkultur». In: Burchardt, Matthias/Molzberger, Rita (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost. Würzburg 2017, Seiten 121–146.
Jochen Krautz. Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht. Keine digitale Transformation von Schule. GBW-Flugschriften Nr. 1. Köln 2020.
https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf
Ralf Lankau. Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschriften Nr. 2. Köln 2020.
https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/09/lankau_flugschrift_web.pdf
Christoph Türcke. Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. München 2016.
Michael Rudolph / Susanne Leinemann. Wahnsinn Schule. Was sich dringend ändern muss. Berlin 2021.
Michael Winterhoff. Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloh 2019.