Leben mit der anderen Meinung

von Marita Brune

(30. November 2020)  Eine vollbesetzte Zahnradbahn arbeitet sich 1700 Meter hoch auf den Monte Generoso. Es ist herrliches Wetter, die Passagiere sind hauptsächlich Touristen aus der Deutschschweiz, die noch die letzten warmen Tage im Tessin ausnutzen wollen. Vereinzelt sind auch Deutsche darunter.

Zwei Familien mit Kindern, beide Paare etwa Mitte dreissig: Die eine Familie sind Deutschschweizer, die andere Deutsche. Der deutsche Vater hat für die atemberaubende Landschaft offensichtlich keinen Blick. Er ist zu sehr damit beschäftigt, seinen Schweizer Freunden seine Sicht von der Welt zu erklären. Und das macht er so laut, dass die ganze Bahn gleich mithören kann – oder muss, je nach Sichtweise. So ereifert er sich zum Beispiel über «Idioten» in Deutschland, die gegen die Maskenpflicht protestierten und die – so ein Schwachsinn! – gegen den Abbau der Grundrechte demonstrieren würden. Nahtlos ist er bei Donald Trump und der amerikanischen Politik. Hoffentlich würde der nicht wiedergewählt, der sei ein Unglück für die USA. Überhaupt solle es am besten eine Frau machen, endlich müsse Schluss sein mit dem männlichen Gehabe. Am besten wäre eine schwarze Frau. So geht es weiter, immer in voller Lautstärke, vor allem aber drückt sein Ton unmissverständlich aus: Ich weiss es! Alle, die es anders sehen, sind Idioten. Er ist sich dabei offensichtlich gewiss, dass seine Gesprächspartner das ganz genau so sehen wie er, dass man sich selbstverständlich einig ist.

«Im Besitz der Wahrheit»

Und genau hier liegt ein grosses Problem. Nicht in den Ansichten dieses Zeitgenossen über verschiedene Dinge; über Maskenpflicht, Grundrechte und Trump kann man durchaus diskutieren. Aber dann bitte differenziert und an der Sache orientiert. Donald Trump z.B. hat weniger Kriege geführt als viele seine Vorgänger, auch als Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Deshalb ist Trump aber längst kein Friedensengel – und ich bin nicht sein Anhänger, wenn ich das konstatiere. So kann man trotzdem zum Beispiel die US-Waffenlieferungen an Saudi-Arabien kritisieren. Aber solche Differenzierungen gehen in diesen Pauschalisierungen – Gutmensch oder zu verachtender Böser – vollkommen unter. Derjenige, der pauschalisiert, sieht sich stets auf der richtigen Seite, auf der Seite des Guten. Und damit ist er dann im Besitz der Wahrheit, vor allem, wenn die bekannten Main-Stream-Medien dasselbe verkünden. Wer anders denkt, den ignoriert man, den hört man nicht an, mit dem setzt man sich nicht auseinander. Man bleibt unter sich, schafft eine Harmonie unter denen, die der gleichen Meinung sind. Zur Not werden Andersdenkende mit harschen Worten bis hin zu üblen Verleumdungen ausgegrenzt und ausgeschlossen.

Wegen der Schärfe keine Gespräche

Der Passagier der Zahnradbahn, der so selbstgewiss seine Wahrheiten verkündete, ist nicht der einzige, der so denkt. Vor allem in Deutschland, aber auch zunehmend bei uns in der Schweiz, wird mit einer solchen Schärfe argumentiert, dass kein Gespräch mehr entstehen kann. Wenn ich den Andersdenkenden von vornherein zum «Idioten» erkläre, kann kein Austausch entstehen. So entstehen Lager, unüberwindliche Gräben. Demokratie geht so nicht.

In der Schweiz sind wir uns durchaus Auseinandersetzungen gewohnt, die in der Sache klar und hart Meinung gegen Meinung setzen, aber immer so, dass der politische Gegner das Gesicht wahren kann, dass man nach der Diskussion ein Bier trinken und sich zuprosten kann. Anders wäre der Aufbau der direkten Demokratie in unserem kleinen Land nicht möglich gewesen. Wir wussten immer, dass wir aufeinander angewiesen sind, zusammenarbeiten müssen. Wir können es uns nicht leisten, uns so zu zerstreiten, dass wir uns nicht mehr in die Augen sehen können. Und wir wollen es auch nicht.

Dissens aushalten

Es wäre für uns alle von Vorteil, wenn wir uns wieder auf diese Tugend besinnen. Wenn wir wieder lernen, andere Meinungen auch mal stehen zu lassen, einen Dissens auszuhalten, ohne die Beziehung zum Gegenüber abzubrechen. Wenn wir bei allen Auseinandersetzungen das Wohlwollen nicht aus dem Auge verlieren und – bis zum Beweis des Gegenteils – immer davon ausgehen, dass auch der andere in bester Absicht handelt. Eine Schärfe in der Auseinandersetzung dürfen wir nicht zulassen.

 

Buchbesprechung

Der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit

Peter Hahne: «Seid ihr noch bei Trost! Schluss mit Sprachpolizei und Bürokraten-Terror»

Von Marita Brune

Mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit setzt sich der deutsche Publizist Peter Hahne* auseinander. Seine sehr pointierten Gedanken, belegt mit zahlreichen aktuellen Beispielen aus der Welt der Wissenschaft, der Medien und des Alltags, werden hier kurz zusammengefasst. Dies ersetzt natürlich nicht die Lektüre seines Buches «Seid ihr noch ganz bei Trost!».(1)

Der Mainstream duldet keinen Gegner

Peter Hahne zieht in seinem Aufsatz «Der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit» ein auf den ersten Blick erstaunliches Fazit: Es gebe keine Debatten mehr, weil wir uns immer alle einig seien. Dieser Anschein werde erweckt, weil Gegenpositionen aus der Öffentlichkeit – Debatten in Medien, Diskussionsveranstaltungen, Kirchentagen und aus TV-Talkshows – verbannt seien. Alle würden sich an den Kodex halten, nur noch die Meinung zu äussern, die Mainstream sei. «Oder höchstens: Alle gegen einen. Man hat die Debatte abgeschafft, weil der Mainstream keinen Gegner duldet.»(2)

Wo bleibt die gute alte Streitkultur?

Hahne, geboren 1952, fragt sich: «Was ist nur aus unserer guten alten Streitkultur geworden?! Früher flogen die Fetzen, und wenn man halbwegs zivilisiert miteinander umging, regelte die Toleranz das Niveau. Da prallten Standpunkte aufeinander, die alles gaben – und Streiter, die sich nichts schenkten. Heute ist aus gegenseitiger Toleranz längst allgemeine Akzeptanz geworden, eine Mogelpackung erster Güte. Was nicht passt, wird passend gemacht: Personen stigmatisiert, Positionen tabuisiert. Selbstgerechtigkeit kenne keine Grenzen. Was und wen wir nicht akzeptieren, kommt auf den Index.»(3)

Nur keinen Dissens aufkommen lassen!

Das Ergebnis können wir jeden Tag in unserem Umfeld beobachten: Menschen meiden das Gespräch über «gefährliche»Themen, Stichworte wie Corona, Greta, Klimawandel, Gender, Trump etc. werden allenfalls mal kurz angetippt, um zu testen, wie das Gegenüber dazu steht. Wenn man auch nur den Hauch einer Uneinigkeit spürt, wendet man sich lieber anderen Themen zu. Man fürchtet die Schärfe, den Streit und die Entzweiung auf Grund des überall vorhandenen Index‘. Um in der Familie, im Kollegium, im Verein keinen Dissens aufkommen zu lassen, wendet man sich lieber Belanglosigkeiten zu. Seine Meinung – sofern sie nicht der «Frankfurter Allgemeinen», der «Süddeutschen», dem «Spiegel», der «TAZ», der «Neuen Zürcher Zeitung» oder dem «Tages-Anzeiger» entspricht – äussert man nur noch im kleinen vertrauten Rahmen, wo man sich der Einigkeit sicher sein kann. So entstehen zunehmend Lager und atomisierte Gemeinschaften, die nicht mehr miteinander diskutieren.

Meinungsdiktatur auch in der Wissenschaft?

Die Meinungsdiktatur erreicht und stört längst auch die wissenschaftliche Welt. «So finden auf unliebsame Universitätsprofessoren regelrechte Hetzjagden statt, unerträgliches Mobbing oder der Ausschluss von jeglicher Kommunikation. Ganz nach dem Motto: Wer etwas gegen Gender oder den Islam hat, kann auch nicht mehr Mathematik oder Sinologie lehren.»(4) Dieser Umgang mit unliebsamen Positionen und Professoren ist so krass geworden, dass sich der Deutsche Hochschulverband 2017 in einer Erklärung dagegen wandte: «Der Streit um das bessere Argument gehört zum Wesenskern der Universität. Die menschliche Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ist ohne Widerspruch und das kontroverse Ringen um Argumente und Beweise nicht vorstellbar. Vor diesem Hintergrund beobachtet der Deutsche Hochschulverband (DHV) mit wachsender Sorge, dass in der freien Welt die Debatten- und Streitkultur erodiert. Verantwortung dafür trägt auch ein Meinungsklima, das im Streben nach Toleranz ‹Political Correctness› fordert.»(5) Nach einer grundsätzlichen Bejahung einer Political Correctness im Sinne eines verantwortungsvollen Sprachgebrauchs heisst es weiter: «Wenn jedoch abweichende wissenschaftliche Meinungen Gefahr laufen, als unmoralisch stigmatisiert zu werden, verkehrt sich der Anspruch von Toleranz und Offenheit in das Gegenteil: Jede konstruktive Auseinandersetzung wird bereits im Keim erstickt. Statt zu Aufbruch und Neugier führt das zu Feigheit und Anbiederung.»(6)

«Betroffenheitskompetenz» statt sachliche Argumente

Hahne stellt einen speziellen wissenschaftsfeindlichen Aspekt der Meinungsdiktatur heraus: Die «Betroffenheitskompetenz». Man kannte sie zunächst aus der Drogendebatte der 90er- Jahre, wo Drogensüchtige jedes sachliche Argument mit ihrer aus ihrer Sucht erwachsenen angeblichen Kompetenz «widerlegen» konnten. «Wahr ist, wo das Herz des Zeitgeistes schlägt», formuliert Hahne heute. «Damit erschlägt man jeglichen faktischen Widerspruch durch Emotion. Gegen die Stimmungsdiktatur kommt niemand an.» Als Beispiel nennt er die deutsche «Willkommenskultur» von 2015: Dagegen durfte man nicht sein, «selbst kleinste kritische Nachfragen (inzwischen alles bewahrheitet, wirklich alles!) wurde als intolerant abgeschmettert, man hatte den Mainstream zu akzeptieren. Punkt!»(7)

«Es hilft schon, persönliche Betroffenheit und empörtes Beleidigtsein, um unter den Schutzmantel der Gutmenschen zu kriechen», verdeutlicht Hahne und zitiert den Journalisten Jan Fleischhauer: «Je beleidigter und empörter eine Gruppe auftritt, desto sicherer sind ihr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die Schutzangebote des Staates.»

Toleranz und Respekt sind gefragt

Wir sind nicht verdammt, bei diesem Irrsinn weiter mitzumachen. «Eine echte Persönlichkeit kann den Meinungsstreit ertragen und braucht nicht den Ausschluss des Gegners», ist Hahne überzeugt. Er erklärt: «Wichtig ist, dass wir uns aus der Diktatur allgemeiner Akzeptanz und zeitgeistdiktierter Pseudo-Wahrheiten befreien und wieder toleranter miteinander umgehen, dass wir Positionen verachten dürfen und die Person mit Respekt dennoch achten.»

1     Hahne, Peter. Seid ihr noch ganz bei Trost! Schluss mit Sprachpolizei und Bürokraten-Terror. Köln 2020

2     Ebd. S. 20

3     Ebd. S. 19

4     Ebd. S. 21

5     Resolution des 67. Deutschen Hochschulverbandstags 2017, zit. nach Hahne, ebd. S. 21f.

6     Ebd. S. 22

7     Ebd. S. 24

*     Peter Hahne studierte Theologie, Philosophie, Psychologie und Germanistik. Er arbeitete als Hörfunkmoderator und Fernsehautor. Er war stellvertretender Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin und moderierte das Politmagazin Berlin direkt. Heute ist Hahne als Kolumnist und Autor tätig.

 

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