«Taktische Atombomben» – und ihre grausamen Folgen
Aktueller Bericht der «Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen» (ICAN)
von Martina Frei*
(30. August 2024) Anlässlich des Jahrestags (6. und 9. August) der US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945 erinnerte die «Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen» (ICAN) daran, was Atombomben Kindern antun.
Am Anfang des ICAN-Berichts steht eine Warnung: «Dieser Bericht enthält anschauliche Geschichten, Illustrationen und Fotos von extremer Gewalt gegen Kinder; detaillierte Beschreibungen von Verletzungen, Leiden und Tod von Kindern; Verweise auf psychische Erkrankungen, Selbstmord und Vernachlässigung von Kindern sowie Geschichten von Schäden, die schwangeren Frauen zugefügt wurden und zu Fehl- und Totgeburten führten.»
«Wann immer ich an Hiroshima denke, ist das erste Bild, das mir einfällt, mein vierjähriger Neffe Eiji – sein kleiner Körper verwandelte sich in einen zur Unkenntlichkeit geschmolzenen Fleischklumpen. Mit schwacher Stimme bat er immer wieder um Wasser, bis ihn der Tod erlöste.»
Setsuko Thurlow, zum Zeitpunkt
der Atombombenexplosion 13 Jahre alt
«Alles, was ich sehen konnte, war zerstört. Kinder schrien nach ihren Müttern. Verkohlte Körper waren überall in der Stadt verstreut. Viele Menschen verloren ihre Arme oder Beine.»
Lee Su-yong, 15 Jahre
«Ich fand meine ältere Schwester kaum wiedererkennbar unter den Sterbenden und Toten. Ihr Gesicht war geschwollen und verbrannt.»
Ein Mädchen in Nagasaki
«Eine Mutter wiegte ihr Baby ohne Kopf und weinte … Kleine, barfüssige Kinder hockten in den Ruinen oder liefen an Leichen vorbei, nach ihren Müttern und Vätern rufend.»
Susan Southard, Autorin von
«Nagasaki: Life After Nuclear War»
«Seine ganze Haut hatte sich abgelöst, da stand ein roter, nackter Körper. Wenn ich keine Intuition gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich geleugnet, dass dies mein Kind war.»
Yasuo Yamamoto über den Anblick seines Sohnes,
der am nächsten Tag starb
«Ein junges Paar, der Frau war die Kleidung vom Körper gerissen, beide waren blutüberströmt, hielt ein blutendes Baby und flehte um Hilfe, um ein zweites Kind zu finden, das unter den Trümmern verloren gegangen war.»
James N Yamazaki, Autor von
«Children of the Atomic Bomb»
Diese Zitate stammen aus dem eben erschienenen Bericht «Die Wirkung von Nuklearwaffen auf Kinder» der «Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen» (ICAN).1 Die ICAN erhielt 2017 den Friedensnobelpreis. Schätzungsweise über 38 000 Kinder starben laut ICAN in Hiroshima und Nagasaki als direkte Folge der Atombombenabwürfe. Dazu kamen ungezählte Kinder, die Jahre später einer strahlenbedingten Leukämie oder anderen Strahlenkrankheiten erlagen.
Der damals 15-jährige Iwao Nakanishi erinnerte sich an einen kleinen Knaben, der um Hilfe schrie. Der Kleine hatte beide Augen verloren.
«Ich ergriff seinen Arm und versuchte, ihm beim Aufstehen zu helfen. Sein Fleisch löste sich und ich liess los. Ich kann das nie vergessen … Ich bereue es, dass ich ihn nicht auf meinen Rücken genommen und gerettet habe.»
Iwao Nakanishi, 15 Jahre
Die überlebenden Kinder lieferten weitere, erschütternde Augenzeugenberichte. Sie sahen die verkohlten Überreste ihre Geschwister und Eltern. Klassenkameraden, denen die Augäpfel aus ihren Augenhöhlen platzten. Strassen voller Toten und Sterbenden.
Selbst heutige «taktische» Atombomben haben grössere Wirkung als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki
Die «Little Boy» genannte Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima gezündet wurde, hatte eine Sprengkraft von etwa 13 Kilotonnen TNT,2 die zwei Tage später über Nagasaki abgeworfene Atombombe namens «Fat Man» eine von rund 21 Kilotonnen.3
Zum Vergleich: Die in letzter Zeit oft erwähnten «taktischen» Atomwaffen besitzen laut der «ARD-Tagesschau» «in der Regel» eine Sprengkraft zwischen 0,3 und über 50 Kilotonnen TNT.4
Die deutsche «Bundeszentrale für politische Bildung» klärte 2013 in einem Artikel auf: Die US-Bomben, die in Europa gelagert würden, hätten eine «variabel einstellbare Sprengkraft von 0,3 bis zu 50 Kilotonnen (Modell 4) beziehungsweise 0,3 bis 170 Kilotonnen (Modell 3).5
«Eskalation der nuklearen Rhetorik»
Gegenwärtig sind weltweit fast 4000 Atomsprengköpfe einsatzbereit (Infosperber berichtete).6 Noch im August 2022 hatte Russlands Präsident Wladimir Putin an die Teilnehmenden der damaligen Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York geschrieben: «Wir gehen davon aus, dass es in einem Atomkrieg keine Sieger geben kann und er niemals begonnen werden darf.»7
ICAN Deutschland stellt jedoch eine «Eskalation der nuklearen Rhetorik»8 nicht nur in Russland fest, sondern auch in Israel und Nordkorea. «Fast jede Woche drohen Kreml-Politiker oder Propagandisten im Staatsfernsehen mit einem konventionellen oder sogar nuklearen Vergeltungsschlag gegen die Nato», berichtete das «ZDF» kürzlich.9 «Russland hatte erst im Mai nahe der ukrainischen Grenze taktische Atomwaffenübungen abgehalten», so die «ARD».10
Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagte im Juni,11 die NATO denke darüber nach, mehr Atomwaffen einsatzbereit zu machen. Schon im Oktober 2023 «spielte die Nato das Atomkriegsszenario durch» («Neue Zürcher Zeitung»).
Auf einem Vorbereitungstreffen zur 11. Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag (NPT) schlug der chinesische Vertreter nun im Juli 2024 vor, «alle fünf offiziellen Atomwaffenstaaten USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien, sollten vertraglich auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten», berichtet Pressenza. Doch: «Die USA und die NATO weigern sich bisher diesen Schritt zu gehen.»12
Der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer (Die Grünen) forderte eine «europäische Atombombe». Die «NZZ am Sonntag» kommentierte: «Es ist besser, eine Atombombe zu haben als keine.»13
Wer den ICAN-Bericht liest, kommt zum gegenteiligen Schluss.
Die Atommächte sollten dringend Abrüstungsverhandlungen aufnehmen. Die früher schwierigen gegenseitigen Kontrollen der Rüstungsbeschränkungen und der Abrüstung sind mit modernen Überwachungsmöglichkeiten leichter zu gewährleisten.
Fast zwei Kilometer von der Explosion entfernt – vier Jahre im Spital
Der 16-jährige Sumiteru Taniguchi war 1,8 Kilometer vom Explosionsort der Bombe mit dem Velo unterwegs, als ihn die Druckwelle der Bombe zu Boden schleuderte. Als er den Kopf wieder hob, sah er, dass alle Kinder, die vorher ringsherum gespielt hatten, tot waren. Sumiteru erlitt schwerste Verbrennungen. Er verbrachte fast vier Jahre im Spital und fast zwei Jahre davon nur in Bauchlage. Während dieser Zeit entwickelte er tiefe Druckgeschwüre und Hautwunden vom Liegen.
Die damals 13-jährige Setsuko Thurlow beschrieb Bombenopfer, denen «Teile des Körpers fehlten», deren «Augäpfel in ihren Händen hingen» und deren «Bäuche aufgeplatzt waren». «Ich sah um mich herum völlige, unvorstellbare Verwüstung.»
Um der unerträglichen Hitze der Feuersbrunst zu entkommen und um ihre grausamen Schmerzen zu lindern, stürzten sich an einer Schule in Hiroshima hunderte von verbrannten Kindern in das Schwimmbecken der Schule – und starben im Wasser.
Im Zentrum von Hiroshima waren an jenem 6. August 1945 etwa 8400 Siebt- und Achtklässler aufgeboten worden. Sie sollten helfen, Brandspuren des Kriegs zu beseitigen.
«Fast alle von ihnen wurden eingeäschert und verdampft, ohne eine Spur zu hinterlassen, und noch mehr starben innerhalb von Tagen. Auf diese Weise wurde meine Altersgruppe in der Stadt fast ausradiert.»
Setsuko Thurlow, 13 Jahre
Daran erinnert sich Setsuko Thurlow, die sich ihr Leben lang für die Abschaffung von Nuklearwaffen engagierte und 2017 für ICAN den Friedensnobelpreis entgegennahm.14
Fujio Tsujimoto war fünf Jahre alt und gerade mit seiner Grossmutter auf dem Spielplatz einer Schule in Nagasaki. Er hörte den herannahenden Flugzeugbomber und schaffte es, mit seiner Grossmutter zusammen den wohl am besten geschützten Ort in einem Schutzbunker zu erreichen, als die Atombombe detonierte. Fujio schilderte seine Erlebnisse:
«Ich fand überall auf dem Spielplatz verstreute Menschen. Der Boden war fast vollständig mit Leichen bedeckt. Die meisten von ihnen sahen tot aus und lagen still. Hie und da bewegten aber einige die Beine oder hoben ihre Arme. Diejenigen, die sich noch bewegen konnten, kamen in den Schutzraum gekrochen. Bald war der Bunker mit Verwundeten überfüllt. Um die Schule herum stand die ganze Stadt in Flammen.
Mein Bruder und meine Schwestern kamen zu spät in den Schutzraum, so dass sie verbrannt waren und weinten. Eine halbe Stunde später erschien endlich meine Mutter. Sie war blutüberströmt. Ich werde nie vergessen, wie glücklich ich war, als ich mich an meine Mutter klammerte. Wir warteten und warteten auf Vater, aber er kam nie. […]
Meine jüngere Schwester starb am nächsten Tag. Meine Mutter starb auch am nächsten Tag. Und dann mein älterer Bruder. Ich dachte, ich würde auch sterben, denn die Menschen um mich herum, die nebeneinander im Bunker lagen, starben einer nach dem anderen.»
Fujio Tsujimoto, 5 Jahre
Die Überlebenden bekamen Fieber und blutendes Zahnfleisch, Haarausfall, mussten sich übergeben, litten an Durchfall – Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Dazu kamen nicht aushaltbare Schmerzen durch schwerste Verbrennungen, Knochenbrüche, Hautwunden, tief im Fleisch sitzende Glassplitter, Wundinfektionen. «Viele Kinder warteten tagelang auf eine medizinische Behandlung […] An vielen Behandlungsorten behandelten die Ärzte zuerst diejenigen mit weniger schlimmen Verletzungen, weil sie grössere Überlebenschancen hatten. […] Nicht wenige sagten, sie beneideten die Toten. […]», steht im ICAN-Bericht.
Ad hoc erstellte Krematorien verbrannten
die Leichen – «manchmal 20 oder mehr zugleich».
«Es waren so viele Tote, dass es unmöglich war, nicht auf sie zu treten. Es war schrecklich. Manche hatten keine Köpfe mehr.»
Yoshiko Kajimoto, 14 Jahre
Der ICAN-Bericht ist mit Fotos und Zeichnungen illustriert, von denen etliche ebenso schrecklich oder berührend sind wie die mündlichen Schilderungen. Ein Foto beispielsweise zeigt einen völlig verwüsteten Pausenhof einer Schule in Nagasaki. Dort liegen Schädelknochen und verstreute Gebeine von Kindern herum. Die Reste der kleinen Körper wurden pulverisiert.
Die Mutter des 13-Jährigen Shigero Orimen «erkannte» ihr Kind, weil sie seine metallene Lunchbox fand, die sie ihrem Sohn am Morgen mitgegeben hatte. Daneben lagen die verbrannten Knochenüberreste ihres Kindes. Von vielen Kindern fand man gar keine Spur mehr.
Tausende von Überlebenden – im Japanischen «hibakusha» genannt – wurden zu Waisen. Sie zogen, auf sich allein gestellt, umher, manche landeten in einem der völlig überfüllten Waisenhäuser, wurden Verwandten oder Sozialdiensten übergeben oder fristeten ihr Dasein als Hilfskräfte. Andere gerieten in die Fänge von Verbrechern, wurden zur Prostitution gezwungen, erkrankten oder begingen Suizid.
Ein Lehrer, der an einer zum Waisenhaus umfunktionierten Schule half, beschrieb die Zustände dort:
«Wegen des ständigen Durchfalls wurden viele der Kinder von Tag zu Tag dünner und dünner. Die meisten starben schliesslich und ihre Leichen wurden in einer Ecke des Schulhofs verbrannt. Wilde Hunde wühlten dann in den Knochen. Jeden Tag suchten besorgte Eltern das Zentrum auf, um ihre Kinder zu finden. Aber es gab nur sehr wenige Wiedersehen. Wenn doch, dann schauten die anderen Kinder neidvoll zu.»
Yoshie Tomasu, Lehrer
Das tote Brüderchen zum Einäschern gebracht
«Ich sah einen etwa 10 Jahre alten Jungen vorbeigehen. Er trug ein Baby auf seinem Rücken. Der kleine Kopf war nach hinten geneigt, als ob das Baby fest schliefe. In jenen Tagen sah man in Japan oft Kinder mit ihren kleinen Brüdern oder Schwestern auf dem Rücken spielen, aber dieser Junge war eindeutig anders. Ich konnte sehen, dass er aus einem ernsten Grund an diesen Ort gekommen war. Er trug keine Schuhe. Sein Gesicht war hart. Der Junge stand 5 oder 10 Minuten lang da. Die Männer mit den weissen Masken gingen zu ihm hinüber und begannen leise, das Seil zu entfernen, mit dem das Baby festgehalten wurde. In diesem Moment sah ich, dass das Baby bereits tot war. Die Männer hielten den Körper an Händen und Füßen und legten ihn auf das Feuer. Der Junge stand gerade da, ohne sich zu bewegen, und schaute in die Flammen. Er biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie vor Blut glänzte. Die Flamme brannte schwach wie die untergehende Sonne. Der Junge drehte sich um und ging schweigend davon.»
Joe O’Donnell, Fotograf des US-Marinekorps
ICAN erinnert daran, dass fast alle Länder der Erde sich verpflichtet haben, die Kinder in bewaffneten Konflikten zu schützen. Im Vergleich zu Erwachsenen ist ihre Haut dünner, ihre Körper sind weniger widerstandsfähig und ihre Strahlenempfindlichkeit ist grösser.
* Dr. Martina Frei, geboren 1965, hat in Freiburg und München Medizin studiert. Nach einem Abschluss an der Ringier-Journalistenschule arbeitete sie als Wissenschaftsredakteurin beim Schweizer Tages-Anzeiger. Seit 2015 ist sie Hausärztin und freie Journalistin, seit 2021 auch Mitarbeiterin bei «Infosperber». |
Quelle: https://www.infosperber.ch/politik/taktische-atombomben-und-ihre-grausamen-folgen/, 11. August 2024
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Little_Boy
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Fat_Man
4 https://www.tagesschau.de/ausland/taktische-atomwaffen-101.html
5 https://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m6/articles/nuclear-weapons-in-europe
8 https://www.icanw.de/neuigkeiten/update-die-atomare-ebene-des-russischen-angriffs-auf-die-ukraine/
10 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/atomwaffen-nato-russland-100.html
13 https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/warum-europa-eine-atombombe-braucht-ld.1773165