UNO-Generalversammlung
Biden «vergisst», was ein Krieg ist
«Der Krieg ist vorbei. Willkommen im neuen Krieg.»
Von Joe Lauria, USA*
(3. Oktober 2021) In seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen sagte Joe Biden am Dienstag [21. September] zu den führenden Politikern der Welt: «Ich stehe heute hier und – zum ersten Mal seit 20 Jahren – führen die Vereinigten Staaten keinen Krieg.»
Laut dem letzten verfügbaren Kriegsbericht des Weissen Hauses waren die USA im Jahr 2018 in sieben Kriege verwickelt: Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Somalia, Libyen und Niger. Die USA haben sich letzten Monat aus Afghanistan zurückgezogen, so dass die Zahl der aktuellen US-Kriege wahrscheinlich bei sechs liegt. Wahrscheinlich deshalb, weil im Zeitalter der so genannten Anti-Terror-Operationen nicht ganz klar ist, wo die US-Streitkräfte im Einsatz sind.
Das Engagement der USA in Niger kam zum Beispiel völlig überraschend. Biden hat bereits Luftangriffe in Syrien und Somalia durchgeführt und gelobte, den Drohnenkrieg in Afghanistan fortzusetzen. Die US-Truppen halten weiterhin syrisches Territorium besetzt. Offiziell befinden sich noch 2500 US-Soldaten im Irak.
Auf jeden Fall sind die Vereinigten Staaten nicht im Frieden, so wie Biden andeutete. Mit 800 Militärstützpunkten und -einrichtungen in der ganzen Welt befinden sich die USA ständig im Kriegszustand.
Im Grossen und Ganzen war Bidens Rede jedoch die am wenigsten kriegerische Rede eines US-Präsidenten vor der UNO-Generalversammlung in jüngster Zeit. Er schwor, dass die USA nur als letztes Mittel Gewalt anwenden würden. «Bomben und Kugeln können uns nicht gegen Covid-19 oder seine zukünftigen Varianten schützen», sagte er. In der Tat war der Grossteil seiner Rede dem Kampf gegen den Klimawandel und die Pandemie gewidmet.
Die Rede Obamas
Im Gegensatz dazu schien Präsident Barack Obama 2015 die ganze Welt zu bedrohen, als er auf dem Podium der Vereinten Nationen prahlte: «Ich führe das stärkste Militär, das die Welt je gesehen hat, und ich werde niemals zögern, mein Land oder unsere Verbündeten zu schützen, einseitig und mit Gewalt, wo es nötig ist.» Er warf Russland und China vor, «zu den Methoden zurückkehren zu wollen, die für den grössten Teil der Menschheitsgeschichte galten und die vor der Gründung dieser Institution existierten».
Obama sagte: «Zu diesen alten Regeln gehörte der Glaube, dass Macht ein Nullsummenspiel ist, dass Macht Recht schafft, dass starke Staaten schwächeren ihren Willen aufzwingen müssen, dass die Rechte des Einzelnen keine Rolle spielen und dass in einer Zeit des schnellen Wandels die Ordnung mit Gewalt durchgesetzt werden muss.» Dies ist eine treffende Beschreibung der aggressiven Geschichte Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Rede Bushs
George W. Bush war in der UNO sogar noch kriegslüsterner, als er 2002 mit einem Bündel von Lügen in der Institution, die eigentlich dem Frieden gewidmet sein sollte, seine Kriegs-Argumente vortrug:
«Heute hält der Irak weiterhin wichtige Informationen über sein Atomprogramm zurück –Waffenkonstruktionen, Beschaffungsprotokolle, Experimentdaten, eine Buchführung über Nuklearmaterialien und Unterlagen über ausländische Hilfe. Der Irak beschäftigt fähige Nuklearwissenschaftler und -techniker. Er verfügt über die für den Bau einer Atomwaffe erforderliche Infrastruktur. Der Irak hat mehrere Versuche unternommen, hochfeste Aluminiumröhren zu kaufen, die zur Anreicherung von Uran für eine Kernwaffe verwendet werden. Sollte der Irak in den Besitz von spaltbarem Material gelangen, wäre er in der Lage, innerhalb eines Jahres eine Atomwaffe zu bauen. Und die staatlich kontrollierten irakischen Medien haben von zahlreichen Treffen zwischen Saddam Hussein und seinen Atomwissenschaftlern berichtet, die wenig Zweifel an seinem anhaltenden Appetit auf diese Waffen lassen.»
UN-Reden von US-Präsidenten sind eine Gelegenheit für die selbsternannten «Führer der freien Welt», der Welt das Gesetz des Dschungels von der Tyrannenkanzel aus zu verkünden.
Tyrannen wollen normalerweise nicht kämpfen. Sie wollen nur ihren Willen durch Einschüchterung durchsetzen, indem sie ihr Gewicht in die Waagschale werfen. Aber allein die Androhung von Krieg kann unbeabsichtigte Folgen haben.
US-«Diplomatie»
Biden erklärte vor der UNO, dass er der Diplomatie grosse Bedeutung beimesse. «Wir müssen unsere Diplomatie verstärken und uns zu politischen Verhandlungen verpflichten und nicht zu Gewalt als erstem Mittel zur Bewältigung von Spannungen in der Welt», sagte er.
Doch die Worte eines prominenten Befürworters der illegalen Invasion im Irak klingen hohl. Nach nur einer Amtszeit als Generalsekretär der Vereinten Nationen, nachdem die Clinton-Regierung ihn im Wesentlichen entlassen hatte, kam Boutros Boutros Ghali zu dem Schluss, dass die USA keinen Bedarf an Diplomatie hätten. Er schrieb in seinen Memoiren:
«Da ich aus einem Entwicklungsland stamme, wurde ich umfassend in Völkerrecht und Diplomatie geschult und nahm fälschlicherweise an, dass die Grossmächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, ihre Vertreter ebenfalls in Diplomatie ausbildeten und deren Wert anerkannten. Aber das Römische Reich hatte keinen Bedarf an Diplomatie. Und die Vereinigten Staaten auch nicht.»
Um den Gedanken der Diplomatie nicht zu weit zu treiben, erklärte Biden der Welt, dass er immer noch bereit sei, Gewalt anzuwenden, wann immer er es für nötig halte.
«Irren Sie sich nicht: Die Vereinigten Staaten werden weiterhin sich selber, unsere Verbündeten und unsere Interessen gegen Angriffe, einschliesslich terroristischer Bedrohungen, verteidigen, während wir uns darauf vorbereiten, Gewalt anzuwenden, falls dies notwendig sein sollte um die lebenswichtigen nationalen Interessen der USA zu verteidigen, auch gegen bestehende und kommende Bedrohungen», sagte er.
Er schien seinen Rundumschlag abmildern zu wollen, als er hinzufügte: «Wir werden terroristischen Bedrohungen, die heute und in Zukunft auftreten, mit der gesamten Bandbreite der uns zur Verfügung stehenden Mittel begegnen, einschliesslich der Zusammenarbeit mit lokalen Partnern, so dass wir nicht so sehr auf gross angelegte Militäreinsätze angewiesen sein werden.»
Biden ist also für einen «kleinen» Krieg. Krieg ist es trotzdem: Weitere Einsätze mit Drohnenangriffen und Spezialeinheiten im laufenden Bush-Krieg am Boden, die routinemässig unschuldige Zivilisten töten.
Alte Kriege
Bidens Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte im April, dass künftige US-Kriege nicht wie die «alten Kriege» sein würden.
«Die Art und Weise, wie wir den nächsten grossen Krieg führen werden, wird sich sehr von der Art und Weise unterscheiden, wie wir die letzten Kriege geführt haben», sagte Austin im US Pacific Command auf Hawaii. Er sagte, er habe «den grössten Teil der letzten zwei Jahrzehnte damit verbracht, den letzten der alten Kriege auszuführen».
«Wir können die Zukunft nicht vorhersagen», fügte Austin hinzu. «Was wir also brauchen, ist die richtige Mischung aus Technologie, operativen Konzepten und Fähigkeiten – alles zusammen in einer vernetzten Art und Weise, die so glaubwürdig, so flexibel und so beeindruckend ist, dass sie jeden Gegner innehalten lässt.»
Nach dem Rückzug aus Afghanistan im vergangenen Monat deutete Biden an, dass das Pentagon seine Aufmerksamkeit noch stärker auf Russland und China richten werde. Der umstrittene neue Verteidigungspakt zwischen den USA, dem Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Australien [Aukus] ist eindeutig auf Peking ausgerichtet. Im Gegensatz zu Obama sprach Biden in seiner Rede die Worte «Russland» oder «China» nie aus. Stattdessen verurteilte er sie mit dem verschlüsselten Begriff «Autoritarismus».
Der Krieg ist vorbei. Willkommen im neuen Krieg.
* Joe Lauria ist Amerikaner und Chefredakteur von Consortium News und ehemaliger UN-Korrespondent für das Wall Street Journal, den Boston Globe und zahlreiche andere Zeitungen. Er war investigativer Reporter für die Londoner Sunday Times und begann seine berufliche Laufbahn als freier Journalist für die New York Times. Er ist zu erreichen unter joelauria@consortiumnews.com. |
Quelle: https://consortiumnews.com/2021/09/22/biden-at-the-un-forgets-what-war-is/, 22. September 2021
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)