«Deep State», China und der grosse Krieg
John Mearsheimer und Jeffrey Sachs über die US-Aussenpolitik
Diskussion am «All-In Summit 2024» an der Columbia University zwischen John Mearsheimer* und Jeffrey Sachs**
(13. Dezember 2024) (CH-S) Wie sehen zwei der renommiertesten US-amerikanischen Intellektuellen die eigene Aussenpolitik? Dazu liefert die im Folgenden gekürzt wiedergegebene Diskussion einen tiefen Einblick, der in Europa dringend zur Kenntnis genommen werden sollte.
Beim «All-In Summit 2024» an der Columbia University (8.–10. September), fand eine Diskussion mit zwei der provokantesten Stimmen in der US-Aussenpolitik, John Mearsheimer von der University of Chicago und Jeffrey Sachs von der Columbia University statt, die verschiedene Schichten der globalen Machtdynamik freilegte.
Dabei wurde die Rolle des sogenannten «Tiefen Staats» unter die Lupe genommen und aufgedeckt, wie beide grossen politischen Parteien trotz ihres äusseren Erscheinungsbildes an der weltweiten Machtprojektion der USA beteiligt sind.
Von der Verwicklung der USA in die Ukraine bis hin zu den langfristigen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas und der Situation in Nahost – diese intellektuellen Titanen erklärten nicht nur die Mechanismen der amerikanischen Hegemonie, sondern stellten auch deren Zukunftsfähigkeit in Frage, in einer Zeit, in der ein Atomkrieg am Horizont droht.
Das ganze Gespräch kann nachgehört oder nachgelesen werden. (Siehe Quellen am Ende des Textes)
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«Deep State» und Unterschied zwischen den Republikanern und den Demokraten
Jeffrey Sachs: Es gibt im Grunde eine «Deep-State»-Partei, und das ist die Partei von Cheney, Harris, Biden und Victoria Nuland – meiner Kollegin an der Columbia University. Nuland ist so etwas wie das Gesicht all dessen, weil sie in den letzten 30 Jahren in jeder Regierung vertreten war. Sie war in der Regierung von Clinton und hat unsere Politik gegenüber Russland in den 1990er Jahren ruiniert. Sie war in der Regierung von Bush Jr. mit Cheney und hat unsere Politik gegenüber der NATO-Erweiterung ruiniert. Dann war sie in der Regierung von Obama, zunächst als Sprecherin von Hillary und hat dann im Februar 2014 einen Putsch in der Ukraine angezettelt – es war keine gute Idee; sie hat einen Krieg begonnen. Und dann war sie Bidens Unterstaatssekretärin. Da es sich um beide Parteien handelt, ist es ein kolossales Chaos. Sie war Cheneys Beraterin, sie war Bidens Beraterin, das ergibt durchaus Sinn. Das ist die Realität. Wir versuchen herauszufinden, ob es noch eine andere Partei gibt. Das ist die grosse Frage.
John Mearsheimer: Ich bezeichne die Republikaner und Demokraten gerne als Tweedle Dee und Tweddle Dum. Es gibt kaum einen Unterschied. Ich denke, die einzige Ausnahme ist, dass der ehemalige Präsident Trump, als er 2017 Präsident wurde, darauf aus war, den «Deep State» zurückzudrängen und aussenpolitisch eine andere Art von Führungspersönlichkeit zu werden. Aber im Grunde genommen ist ihm das nicht gelungen. Und er hat geschworen, dass es dieses Mal anders sein wird, wenn er gewählt wird, und er den «Deep State» zurückschlagen wird. Er will eine Aussenpolitik verfolgen, die sich grundlegend von der unterscheidet, die Republikaner und Demokraten bisher verfolgt haben. Die grosse Frage, die auf dem Tisch liegt, ist, ob Sie glauben, dass Trump den «Deep State» und diese beiden etablierten Parteien schlagen kann, und ich wette gegen Trump.
Wenn wir über den «Deep State» sprechen, sprechen wir eigentlich über den Verwaltungsstaat. Es ist sehr wichtig, dies vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der amerikanischen Wirtschaft ab dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu verstehen. Es war unerlässlich, dass wir uns weiterentwickeln.
Das galt für alle westlichen Länder. Es brauchte einen sehr mächtigen Zentralstaat, der das Land regieren konnte. Im Laufe der Zeit hat dieser Staat an Macht gewonnen. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten, wie Sie alle wissen, in jedem Winkel der Welt involviert und führten Kriege, hier, dort und überall. Um das zu tun, braucht man einen sehr mächtigen Verwaltungsstaat, der bei der Verwaltung dieser Aussenpolitik helfen kann.
Aber was passiert dabei, wenn man all diese hochrangigen Bürokraten hat und die Bürokraten auf der mittleren und unteren Ebene? Sie etablieren sich in Positionen im Pentagon, im Aussenministerium, in der Geheimdienstgemeinschaft, und am Ende haben sie ein persönliches Interesse daran, eine bestimmte Aussenpolitik zu verfolgen. Es ist diejenige die von den Demokraten und den Republikanern vorangetrieben wird. […]
Sachs: Im Jahr 2017 gab es ein sehr interessantes Interview mit Putin im «Figaro». Er sagte: «Ich habe jetzt mit drei Präsidenten zu tun gehabt. Sie kommen sogar mit einigen Ideen ins Amt. Aber dann kommen die Männer in den dunklen Anzügen und den blauen Krawatten – ich trage rote Krawatten, aber sie tragen blaue Krawatten – und erklären, wie die Welt wirklich ist. Und schon sind die Ideen verschwunden.» Ich denke, das ist Putins Erfahrung, das ist unsere Erfahrung, das ist meine Erfahrung, nämlich dass es eine tief verankerte Aussenpolitik gibt. Meiner Interpretation nach gibt es sie schon seit vielen Jahrzehnten, aber eine Variante davon gibt es wohl seit 1992.
Lässt sich eine begonnene Politik ändern?
Frage: Ist es eine philosophische Grundlage oder ist es nur dieses Trägheitsproblem, dass es schwierig ist, eine einmal begonnene Politik zu ändern, wenn das System einfach funktioniert, wenn 10 000 Menschen darauf hinarbeiten?
Sachs: Wenn man die amerikanische Aussenpolitik interpretieren will, dann besteht die richtige Antwort darin, dass sie versucht, die globale Macht zu maximieren, um globaler Hegemon zu sein. Ich denke, das könnte uns alle umbringen, weil es meiner Meinung nach ein wenig wahnhaft ist. Jedes Mal, wenn eine Entscheidung getroffen wird, ging es in den letzten 30 Jahren immer in die gleiche Richtung, nämlich Macht als zentrales Ziel.
Mearsheimer: Zunächst einmal glaube ich, dass die Befürworter dieser Aussenpolitik auch wirklich daran glauben. Das ist nicht zynisch gemeint. Sie glauben wirklich, dass sie das Richtige tun.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass Macht viel damit zu tun hat. Als Realist glaube ich natürlich daran. Aber es ist auch sehr wichtig zu verstehen, dass die Vereinigten Staaten ein grundsätzlich liberales Land sind. Wir glauben, dass wir das Recht, die Verantwortung und die Macht haben, in der Welt herumzulaufen und die Welt nach dem Bild Amerikas neu zu gestalten.
Die meisten Menschen im aussenpolitischen Establishment – die Republikanische Partei, die Demokratische Partei – glauben daran. Das ist es, was unsere Aussenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges in weiten Teilen motiviert hat. Denken Sie daran, dass es nach dem Ende des Kalten Krieges keine rivalisierende Grossmacht mehr gab. Was also tun wir mit all dieser Macht, die wir haben? Wir haben uns entschieden, hinauszugehen und die Welt nach unserem eigenen Bild neu zu gestalten.
Ich bin ewig dankbar, dass ich in einer liberalen Demokratie geboren wurde, und ich liebe den Liberalismus. Aber die Frage ist doch, ob wir meiner Meinung nach in der Welt herumlaufen und anderen Ländern die liberale Demokratie aufzwingen können? In manchen Fällen, indem wir sie ihnen regelrecht aufzwingen, sozusagen mit vorgehaltener Pistole. Ich behaupte, dass das fast unmöglich ist – es geht fast immer nach hinten los. Denken Sie an den Irak, Afghanistan und so weiter. Zweitens beginnt man, den Liberalismus in den Vereinigten Staaten zu untergraben, weil man einen Schattenstaat aufgebaut hat. Sie sollten verstehen, dass viele der Beschwerden hier über das harte Durchgreifen bei der Meinungsfreiheit und so weiter, mit der Tatsache zusammenhängen, dass wir diese ehrgeizige Aussenpolitik haben. Diese beiden Dinge gehören auf sehr wichtige Weise zusammen.
Sachs: Lassen Sie mich ein wenig widersprechen. Aber mit meiner 40-jährigen Arbeit im Ausland glaube ich nicht, dass sich die US-Regierung einen Deut um diese anderen Orte schert. Ich glaube nicht, dass es ihnen wirklich wichtig ist, ob es sich um eine liberale Demokratie oder eine Diktatur handelt. Sie wollen das Recht auf freie Durchfahrt, sie wollen Militärstützpunkte, sie wollen, dass der jeweilige Staat die Vereinigten Staaten unterstützt, sie wollen die NATO-Erweiterung. Es gibt einige, die an Staatsaufbau glauben. Meine Güte, wenn sie das glauben, sind sie so inkompetent, es ist unglaublich. [Applaus]
Zunächst einmal intervenieren wir fast immer, weil wir dies als eine Machtfrage für die USA betrachten. Ob es sich um die Ukraine, Syrien, Libyen oder andere Orte handelt. Selbst wenn wir es als Verteidigung von etwas definieren – glauben Sie mir, es geht nicht um die Verteidigung von etwas. Es geht um die Wahrnehmung der Macht der USA und der Interessen und Ziele der USA in Bezug auf die globale Hegemonie.
Wenn wir den Ukraine-Konflikt analysieren – nur ein klein wenig unter der Oberfläche – stellen wir fest, dass es sich hierbei nicht um einen Konflikt handelt, bei dem Putin in die Ukraine einfällt. Das ist etwas ganz anderes. Es geht um die Machtprojektion der USA auf die ehemalige Sowjetunion, und das ist etwas völlig anderes.
Zweitens: Wenn wir uns entscheiden, die Polizei zu sein, was wir tun, können Sie sich nicht vorstellen, mit welch zynischem Schwachsinn wir unsere Handlungen rechtfertigen. […]
Wenn Sie echte Dinge verteidigen wollen, gehen Sie zum UN-Sicherheitsrat und überzeugen Sie andere, denn die anderen Länder sind nicht verrückt und sie wollen kein Chaos in der Welt. Aber wir spielen Spiele. […] Aber wenn wir unsere Interessen wirklich vertreten wollen, dann sollten wir zum UN-Sicherheitsrat gehen. Dann geht es nicht nur um uns, sondern es ist dann tatsächlich eine Frage der kollektiven Sicherheit.
China – eine Bedrohung?
Frage: Ist China eine Bedrohung?
Mearsheimer: Was China betrifft, bin ich voll und ganz dafür, China einzudämmen. […]
Was Russland betrifft, so glaube ich nicht, dass Russland eine ernsthafte Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt. Ich denke in der Tat, dass die Vereinigten Staaten gute Beziehungen zu Putin haben sollten. Es ist eine bemerkenswert dumme Politik, ihn in die Arme der Chinesen zu treiben.
Es gibt drei Grossmächte im System: die Vereinigten Staaten, China und Russland. China ist ein ebenbürtiger Konkurrent der Vereinigten Staaten. Es ist die grösste Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Russland ist die schwächste dieser drei Grossmächte und stellt keine ernsthafte Bedrohung für uns dar. Wenn man eine ausbalancierte Machtpolitik betreibt und als USA daran interessiert ist, China einzudämmen, möchte man Russland auf seiner Seite haben. Aber was wir getan haben, ist, Russland in die Arme der Chinesen zu treiben. Ausserdem ist es für uns sehr schwierig geworden, uns auf Asien zu konzentrieren, um uns mit China zu befassen, das die grösste Bedrohung für uns darstellt, da wir uns in der Ukraine und jetzt auch im Nahen Osten verzettelt haben. [Beifall]
[…]
Sachs: Ich wollte nur eine Fussnote hinzufügen, nämlich dass China auch keine Bedrohung darstellt. Es ist einfach keine Bedrohung. China ist ein Markt. Es hat grossartiges Essen, eine grossartige Kultur, wunderbare Menschen, eine Zivilisation, die zehnmal älter ist als unsere, es ist keine Bedrohung. […]
Ein Konflikt mit China würde Kalifornien ruinieren. Es würde die Wirtschaft zerstören, die ihr da komplett aufbaut. Diese Wirtschaft ist der grösste Nutzniesser des Aufstiegs Chinas, wahrscheinlich weltweit. Es ist also verrückt. Wenn man sich Sorgen um die Technologiebranche, um Kalifornien, um den Frieden und die Zukunft macht, sollte man für China sein. Das ist alles.
John sagte: «Wenn China gross wird, werden wir Konflikte haben.» […] Sie sind gross, also sind sie ein Feind. Sie sind ein Feind unseres Strebens nach globaler Vorherrschaft.
Mearsheimer: Jeff und ich stimmen in allen möglichen Fragen überein, einschliesslich der Ukraine und Israel/Palästina. Aber wir sind uns, wie er gerade deutlich gemacht hat, in Bezug auf China grundsätzlich nicht einig. […]
Es hat mit Sicherheit zu tun – ob man Sicherheit oder Überleben oder Wohlstand in den Vordergrund stellt. Ökonomen, und ich würde sagen, die meisten von Ihnen im Publikum, sind wirklich sehr daran interessiert, den Wohlstand zu maximieren. Für jemanden wie mich, der Realist ist, geht es darum, die Überlebenschancen des Staates zu maximieren. Wenn man in einem anarchischen System lebt – und in der Sprache der internationalen Beziehungen bedeutet das, dass es keine höhere Autorität gibt, keinen Nachtwächter, der kommen und einen retten kann, wenn man in Schwierigkeiten gerät – und das ist das internationale System. Es gibt keine höhere Autorität.
In dieser anarchischen Welt kann man am besten überleben, wenn man sehr mächtig ist. Als Kinder auf den Spielplätzen von New York City sagten wir immer: «Du musst der grösste und böseste Typ im Viertel sein.» Und zwar einfach deshalb, weil es der beste Weg ist, um zu überleben. Wenn man sehr mächtig ist, legt sich niemand mit einem an. Die Vereinigten Staaten sind ein regionaler Hegemon – der einzige regionale Hegemon auf dem Planeten. Wir dominieren die westliche Hemisphäre.
Aber aus amerikanischer Sicht ist das natürlich inakzeptabel. Wir tolerieren keine gleichrangigen Konkurrenten. Wir wollen keinen weiteren regionalen Hegemonen auf dem Planeten. […]
China hat mit zunehmender wirtschaftlicher Macht begonnen, diese wirtschaftliche Macht in militärische Macht umzuwandeln. Es versucht, Asien zu dominieren. Es will uns über die erste Inselkette, über die zweite Inselkette hinaus verdrängen. Es will so sein, wie wir in der westlichen Hemisphäre. […]
Sie sehen, dass der Wettbewerb in allen Bereichen stattfindet, insbesondere im High-Tech-Bereich. Wir wollen nicht, dass sie uns im High-Tech-Krieg besiegen. Wir konkurrieren mit ihnen wirtschaftlich, wir konkurrieren mit ihnen militärisch, und das liegt daran, dass für uns, die Vereinigten Staaten, der beste Weg zu überleben darin besteht, der einzige regionale Hegemon auf dem Planeten zu bleiben. [Applaus]
China ist keine Bedrohung für die USA
Sachs: John sagte in seinem Buch, dass regionale Hegemonen einander nicht bedrohen. Warum? Weil wir einen grossen Ozean dazwischen haben. […]
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass China keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die einzige Bedrohung für die Vereinigten Staaten in der Welt, angesichts der Ozeane, angesichts unserer Grösse und angesichts des Militärs, ein Atomkrieg ist. Punkt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir kurz vor einem Atomkrieg stehen, weil wir eine Denkweise haben, die uns in diese Richtung führt. Wir haben die Einstellung, dass alles eine Kampfansage ums Überleben ist und dass eine Eskalation daher immer der richtige Ansatz ist. Ich bin der Meinung: Ein wenig Besonnenheit könnte den ganzen Planeten retten. […]
Mein dringender Rat lautet: Erstens ist China keine Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Grosse Ozeane, grosse nukleare Abschreckung und so weiter. Zweitens müssen wir China nicht ins Visier nehmen. Was meine ich damit? Wir müssen keinen Dritten Weltkrieg wegen Taiwan provozieren. Wir haben drei Abkommen mit China, die besagen, dass wir uns da raushalten. Und das sollten wir auch tun. Dann hätte China auch keinen Grund für einen Krieg.
Dann zur wirtschaftlichen Seite. Ich wurde gestern gefragt: «War es gut, China in die WTO aufzunehmen?» Ich sagte: «Natürlich. Sie haben alle davon profitiert. Ich habe davon profitiert, dieses Land hat davon profitiert, die Welt hat profitiert, einschliesslich China. Das ist normal. Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Darin sind wir uns alle einig. Ich glaube, dass Sicherheit auch kein Nullsummenspiel sein muss. Wir können uns ein wenig voneinander fernhalten, und China verbringt seine Zeit nicht damit, Amerika als Hegemon der westlichen Hemisphäre zu beklagen. Das tun sie nicht. Es ist nicht ihr grösstes Interesse, die amerikanische Macht in der westlichen Hemisphäre zu schwächen.
Mearsheimer: Die meisten von Ihnen haben sich wahrscheinlich noch nie die Frage gestellt: «Warum streifen die Vereinigten Staaten über den ganzen Planeten und mischen sich in die Angelegenheiten jedes Landes ein?» Das liegt zum Teil daran, dass sie so mächtig sind, aber auch daran, dass sie ein regionaler Hegemon sind, was bedeutet, dass wir in der westlichen Hemisphäre keine Bedrohung haben. Wir können uns also frei bewegen. Die grosse Gefahr, Jeff, besteht darin, dass China, wenn es zu einem regionalen Hegemonen wird und sich keine Sorgen um Sicherheitsfragen machen muss, sich so verhalten wird wie wir.
Sachs: Das ist nicht meine grosse Angst. Es hat kein Interesse daran, weil es auch nicht in die Luft gejagt werden will.
Wenn man versucht, es daran zu hindern, ein regionaler Hegemon zu werden, werden wir im Dritten Weltkrieg enden. Wie du selbst gesagt hast, kann dies durchaus in einen Krieg münden. Ich möchte nicht, dass es in einen Krieg mündet, aufgrund der Theorie, dass es sich vielleicht eines Tages anders verhalten könnte. Das ist meines Erachtens keine gute Theorie. […]
Die Vereinigten Staaten haben den Markt für China geschlossen. Ist das klug? Nein, das ist nicht klug. Führt das zur Rückverlagerung amerikanischer Produktionsarbeitsplätze? Null. Es kann sie ein wenig verlagern, es kann die Dinge weniger effizient machen, es kann dazu führen, dass ihr alle ein bisschen mehr Geld verliert oder nicht so viel Geld verdient, aber wird es auch nur ein einziges wirtschaftliches Problem in den Vereinigten Staaten lösen? Ganz und gar nicht.
Mearsheimer: Wir befinden uns jetzt in einem Krieg mit Russland. Es ist kein Stellvertreterkrieg, sondern ein direkter Krieg. Russland hat 6000 Atomsprengköpfe. […] im Atomzeitalter steht zu viel auf dem Spiel. Wir haben Technologien wie Chat GPT und Optimus entwickelt, und mit all diesen Innovationen können wir einen Atomkrieg vermeiden. Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen, als zu sagen: «Es ist unvermeidlich». [Applaus].
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Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es um den Konflikt im Nahen Osten und dem Weg zum Frieden.
Das PDF des ganzen Interviews, verschriftlicht und ins Deutsche übersetzt, finden Sie hier.
Die verschriftlichte englische Version in PDF finden sie hier.
* John Joseph Mearsheimer (geboren 1947) ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler an der Universität von Chicago. Sein Schwerpunkt ist die Analyse internationaler Beziehungen aus der Perspektive des offensiven Neorealismus, den er erstmals 2001 in seiner Monografie The Tragedy of Great Power Politics darstellte. John Mearsheimer ist zusammen mit Stephen Walt Autor des «New-York-Times»-Bestsellers Die Israel Lobby: Wie die amerikanische Aussenpolitik beeinflusst wird (2007). ** Jeffrey David Sachs, (geboren 1954) ist ein US-amerikanischer Ökonom und früherer Professor an der Columbia-Universität, wo er von 2002 bis 2016 Direktor des Earth Institute war. Von 2002 bis 2006 war er Sonderberater der Millennium Development Goals. Er ist Direktor des UN-Sustainable Development Solutions Network an der Columbia-Universität. Von 2001 bis 2018 war er Sonderberater der UN-Generalsekretäre Kofi Annan, Ban Ki-moon und Antonio Guterres. Er ist Mitherausgeber des World Happiness Report. Jeffrey Sachs hat mehrere Bücher publiziert, darunter drei «New York Times»-Bestseller: Das Ende der Armut (2005), Common Wealth: Economics for a Crowded Planet (2008) und The Price of Civilization (2011). |
Quelle: John Mearsheimer and Jeffrey Sachs, «All-In Summit 2024», 16. September 2024, https://www.youtube.com/watch?v=uvFtyDy_Bt0
(Transkript, Kürzungen und Übersetzung: CH-S/Ursula Cross)