Die Zerstörung der Ukraine durch «Idealismus»
Warum die Ukraine kein «Recht» auf einen Nato-Beitritt haben sollte
von Glenn Diesen,* Norwegen
(19. Juli 2024) «Politischer Realismus»** wird häufig und fälschlicherweise als unmoralisch dargestellt, weil der Schwerpunkt auf dem unvermeidlichen Wettstreit um Sicherheit liegt und damit idealistische Bemühungen, Machtpolitik zu überwinden, verworfen werden.
Da Staaten nicht aus diesem Wettstreit um Sicherheit ausbrechen können, bedeutet Moral für den Realisten, im Einklang mit der Logik des Gleichgewichts der Kräfte zu handeln, die die Grundlage für Stabilität und Frieden bildet. Idealistische Bemühungen, mit der Machtpolitik zu brechen, können dann als unmoralisch bezeichnet werden, da sie das Management des Wettstreits um Sicherheit als Grundlage des Friedens untergraben. Wie Raymond Aron 1966 formulierte: «Der Idealist, der glaubt, mit der Machtpolitik gebrochen zu haben, übertreibt deren Verbrechen».1
Das souveräne Recht der Ukraine auf einen Nato-Beitritt
Das verlockendste und gefährlichste idealistische Argument, das die Ukraine zerstört hat, ist, dass sie das Recht hat, jedem Militärbündnis beizutreten, das sie wünscht. Es ist eine sehr attraktive Aussage, die leicht die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen kann, da sie die Freiheit und Souveränität der Ukraine bekräftigt, während die Alternative darin zu bestehen scheint, dass Russland erlaubt werden sollte, die Politik der Ukraine zu diktieren.
Die Behauptung, die Ukraine solle einem Militärbündnis beitreten dürfen, ist jedoch ein idealistisches Argument, da es sich darauf bezieht, wie wir die Welt gerne hätten, und nicht darauf, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Das Prinzip, dass sich Frieden aus der Ausweitung von Militärbündnissen ergibt, ohne die Sicherheitsinteressen anderer Grossmächte zu berücksichtigen, hat es nie gegeben. Staaten wie die Ukraine, die an eine Grossmacht angrenzen, haben allen Grund, legitime Sicherheitsbedenken zu äussern, aber eine rivalisierende Grossmacht wie die USA in ihr Gebiet einzuladen, verschärft den Wettstreit um die Sicherheit.
Ist es moralisch, darauf zu bestehen, wie die Welt sein sollte, auch wenn Kriege die Folge des Ignorierens der tatsächlichen Funktionsweise der Welt sind?
Die Alternative zur Nato-Erweiterung besteht nicht darin, eine russische Einflusssphäre zu akzeptieren, die eine Zone exklusiven Einflusses bedeutet. Frieden entsteht, wenn man eine russische Interessensphäre anerkennt, d.h. ein Gebiet, in dem russische Sicherheitsinteressen anerkannt und einbezogen und nicht ausgeschlossen werden müssen. Früher war es unumstritten, dass russische Sicherheitsinteressen bei Operationen an seinen Grenzen berücksichtigt werden müssen. Aus diesem Grund gab es in Europa während des Kalten Krieges einen Gürtel neutraler Staaten als Puffer zwischen Ost und West, um den Wettstreit um Sicherheit abzumildern.
Mexiko hat viele Freiheiten im internationalen System, aber es hat nicht die Freiheit, einem von China geführten Militärbündnis beizutreten oder chinesische Militärbasen zu beherbergen. Das idealistische Argument, dass Mexiko tun kann, was es will, bedeutet, dass die Sicherheitsbedenken der USA ignoriert werden, und das Ergebnis wäre wahrscheinlich die Zerstörung Mexikos durch die USA. Wenn Schottland sich vom Vereinigten Königreich abspaltet und dann einem von Russland geführten Militärbündnis beitritt und russische Raketen stationiert, würden die Engländer dann immer noch den Grundsatz vertreten, dass sie kein Mitspracherecht haben?
Wenn wir in einer realistischen Welt leben und anerkennen, dass der Sicherheitswettstreit zugunsten des Friedens abgemildert werden muss, dann akzeptieren wir ein Sicherheitssystem, das auf gegenseitigen Beschränkungen beruht. Wenn wir in einer idealistischen Welt leben, in der gute Staaten gegen böse Staaten antreten, dann sollte die Kraft des Guten nicht eingeschränkt werden. Der Frieden ist dann gesichert, wenn das Gute das Böse besiegt, ein Kompromiss ist nur eine Beschwichtigungsmassnahme. Idealisten, die Machtpolitik ablehnen und eine bessere Welt schaffen wollen, verschärfen damit den Wettstreit um Sicherheit und schüren Kriege.
Moralische Gründe gegen die NATO-Expansion
Die Behauptung, der Nato-Expansionismus habe den Einmarsch Russlands provoziert, wird von Idealisten regelmässig als unmoralisch verurteilt, weil sie angeblich sowohl die Machtpolitik als auch den Einmarsch legitimiert. Ist die objektive Realität unmoralisch, wenn sie der idealen Welt, die wir uns wünschen, widerspricht?
Der ehemalige britische Botschafter in Russland, Roderic Lyne, warnte im Jahr 2020, dass es ein «grosser Fehler» sei, auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu drängen: «Wenn man einen Krieg mit Russland anfangen will, ist das der beste Weg.»2 Angela Merkel räumte ein, dass Russland die Möglichkeit eines ukrainischen Nato-Beitritts als «Kriegserklärung» interpretieren würde.3 Auch CIA-Direktor William Burns warnte vor einer Aufnahme der Ukraine in die Nato, da Russland eine Einkreisung befürchte und daher unter enormem Druck stehen werde, militärische Gewalt anzuwenden: «Russland müsste entscheiden, ob es eingreift; eine Entscheidung, die Russland nicht treffen möchte.»4 Der Berater des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy argumentierte, dass die Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine vom November 2021 «Russland davon überzeugt hat, dass es angreifen muss um nicht angegriffen zu werden».5 Keiner der genannten Personen wollte eine Invasion legitimieren, sondern einen Krieg vermeiden. Dennoch wird die Beherzigung ihrer Warnungen als Vetorecht für Russland verurteilt, während das Ignorieren dieser Warnungen als prinzipientreu und tugendhaft dargestellt wird.
Wenn Grossmächte nicht über ein weiches institutionelles Veto verfügen, setzen sie ein hartes militärisches Veto ein. Die Idealisten, die darauf bestanden, dass Russland kein Vetorecht bei der Nato-Erweiterung haben dürfe, forderten eine Politik, die vorhersehbar zu Gebietsverlusten, Hunderttausenden von Toten und der Zerstörung einer Nation führen musste. Warum dürfen sich die Idealisten als moralisch und «pro-ukrainisch» darstellen? Warum sind die Realisten, die mehr als ein Jahrzehnt lang vor der Nato-Erweiterung gewarnt haben, unmoralisch und «anti-ukrainisch»? Beruhen diese Bezeichnungen auf den theoretischen Annahmen der Idealisten?
Die Nato als dritte Partei?
Die Behauptung, die Ukraine habe das souveräne Recht, der Nato beizutreten, stellt den Militärblock als passive dritte Partei dar, die lediglich die demokratischen Bestrebungen der Ukrainer unterstützt. Bei dieser Darstellung wird ausser Acht gelassen, dass die Nato nicht verpflichtet war, der Ukraine eine künftige Mitgliedschaft anzubieten. In der Tat haben die westlichen Staaten nach dem Kalten Krieg mehrere Abkommen mit Moskau unterzeichnet, wie zum Beispiel die Charta von Paris für ein neues Europa, um gemeinsam ein Europa ohne Trennlinien und auf der Grundlage unteilbarer Sicherheit aufzubauen.
Die Nato hat diese Vereinbarungen gebrochen, indem sie auf eine Erweiterung drängte und sich weigerte, Russland Sicherheitsgarantien zu geben, um den Sicherheitswettstreit zu entschärfen. Indem sie der Ukraine die künftige Mitgliedschaft anbot, verlagerte die Nato den Druck auf die Ukraine, und der Nato-Russland-Konflikt wurde zu einem Russland-Ukraine-Konflikt. Russland musste die Ukraine daran hindern, dem Militärblock beizutreten und US-Militär in seinem Hoheitsgebiet zu beherbergen.
Die Unterstützung der Nato für das Recht der Ukraine, ihre eigene Aussenpolitik zu wählen, ist ebenfalls unehrlich, da die Ukraine gegen ihren Willen in Einflussbereich des Militärblocks gezogen werden musste. Die westliche Öffentlichkeit wird selten darüber informiert, dass alle Meinungsumfragen zwischen 1991 und 2014 zeigten, dass nur eine sehr kleine Minderheit der Ukrainer jemals dem Bündnis beitreten wollte.
Die Nato bezeichnete das mangelnde Interesse der ukrainischen Regierung und Bevölkerung in einem Bericht aus dem Jahr 2011 als Problem, das es zu überwinden gelte: «Die grösste Herausforderung für die Beziehungen zwischen der Ukraine und der Nato liegt in der Wahrnehmung der Nato in der ukrainischen Bevölkerung. Die Nato-Mitgliedschaft findet im Land keine breite Unterstützung, und einigen Umfragen zufolge liegt die Befürwortung in der Bevölkerung bei weniger als 20 Prozent».6
Die Lösung bestand darin, 2014 eine «demokratische Revolution» herbeizuführen, die die demokratisch gewählte ukrainische Regierung unter Verletzung der Verfassung und ohne mehrheitliche Unterstützung der Ukrainer stürzte. Das durchgesickerte Telefongespräch zwischen Nuland und Pyatt enthüllte, dass die USA einen Regimewechsel planten, einschliesslich der Frage, wer in der Regierung nach dem Staatsstreich sitzen sollte, wer draussen bleiben musste und wie der Staatsstreich zu legitimieren war.7
Nach dem Staatsstreich machten die USA offen ihren Einfluss auf die neue Regierung geltend, die sie in Kiew eingesetzt hatten. Der ukrainische Generalstaatsanwalt Viktor Shokin beklagte sich, dass seit 2014 «das Schockierendste ist, dass alle [Regierungs-]Ernennungen im Einvernehmen mit den USA erfolgten» und Washington «glaubte, dass die Ukraine ihr Lehnsgut sei».8 Ein Konflikt mit Russland könnte herbeigeführt werden, um eine Nachfrage nach der Nato zu schaffen.
Welches waren die ersten Entscheidungen der neuen, von Washington handverlesenen Regierung? Das erste Dekret des neuen Parlaments war ein Aufruf zur Abschaffung des Russischen als Regionalsprache. Die «New York Times» berichtete, dass der neue ukrainische Spionagechef am ersten Tag nach dem Staatsstreich die CIA und den MI6 anrief, um eine Partnerschaft für verdeckte Operationen gegen Russland zu gründen, die schliesslich zu 12 geheimen CIA-Stützpunkten entlang der russischen Grenze führte.9 Der Konflikt verschärfte sich, als Russland mit der Einnahme der Krim und der Unterstützung einer Rebellion im Donbass reagierte und die Nato das Minsker Friedensabkommen sabotierte, für dessen Umsetzung sich die überwältigende Mehrheit der Ukrainer ausgesprochen hatte.
Die Aufrechterhaltung und Verschärfung des Konflikts verschaffte Washington einen abhängigen ukrainischen Stellvertreter, der gegen Russland eingesetzt werden konnte. Derselbe Artikel der «New York Times», der oben erwähnt wurde, enthüllte auch, dass der verdeckte Krieg gegen Russland nach dem Putsch einer der Hauptgründe für den Einmarsch Russlands war:
«Gegen Ende 2021, so ein hoher europäischer Beamter, wog Putin ab, ob er seine gross angelegte Invasion starten sollte, als er sich mit dem Leiter eines der wichtigsten russischen Spionagedienste traf, der ihm sagte, dass die CIA zusammen mit dem britischen MI6 die Ukraine kontrolliere und sie zu einem Brückenkopf für Operationen gegen Moskau mache.»10
Die Unsittlichkeit des Friedens vs. die Sittlichkeit des Krieges?
Nach dem «unprovozierten» Einmarsch Russlands in die Ukraine bestehen die Idealisten darauf, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden muss, sobald der Krieg vorbei ist. Dies soll eine ansprechende und moralische Erklärung sein, um sicherzustellen, dass die Ukraine geschützt wird und sich eine solche Tragödie nicht wiederholt.
Doch was bedeutet dies für Russland? Jedes Gebiet, das Russland nicht erobert, wird in die Hände der Nato fallen, die es dann als Frontlinie gegen Russland einsetzen kann. Die Bedrohung durch die Nato-Erweiterung ist für Russland ein Anreiz, sich so viel Territorium wie möglich anzueignen und sicherzustellen, dass das, was übrigbleibt, ein zutiefst dysfunktionaler Rumpfstaat ist. Das Einzige, was der Ukraine Frieden bringen und das Gemetzel beenden kann, ist die Wiederherstellung der Neutralität des Landes, was jedoch von den Idealisten als zutiefst unmoralisch und daher inakzeptabel bezeichnet wird. Um es nochmals mit Raymond Aron zu sagen: «Der Idealist, der glaubt, mit der Machtpolitik gebrochen zu haben, verstärkt deren Verbrechen.»11
* Glenn Diesen ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Südost-Norwegen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Gebieten Geoökonomie, Konservatismus, russische Aussenpolitik und Grosseurasien. Zum Autor siehe auch: https://braveneweurope.com/glenn-diesen-this-is-why-the-west-is-really-doomed |
** Der «Realismus», in Abgrenzung zum sogenannten Neorealismus in vielen Fällen genauer auch als Klassischer Realismus bezeichnet, ist eine Denkschule innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin «Internationale Beziehungen», die sich mit dem Charakter und der Verteilung der Macht im internationalen System auseinandersetzt. Nach «realistischer» Auffassung ist das wichtigste Ziel jedes Staates das eigene Überleben. Das lasse sich am besten dadurch sichern, dass er mächtiger ist als seine potentiellen Gegner. Durch diese Betrachtungsweise ist der «Realismus» dem überwiegend optimistischen Ansatz des «Idealismus» entgegengesetzt. (Quelle Wikipedia) |
Quelle: https://glenndiesen.substack.com/p/destroying-ukraine-with-idealism, 2. Juli 2024
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.)
1 Aron, R., 1966. Peace and War: A Theory of International Relations. Doubleday, Garden City, p.584.
2 R. Lyne, ‘The UC Interview Series: Sir Roderic Lyne by Nikita Gryazin’, Oxford University Consortium, 18 December 2020.
3 A. Walsh, ‘Angela Merkel opens up on Ukraine, Putin and her legacy’, Deutsche Welle, 7 June 2022.
4 W.J. Burns, ‘Nyet means nyet: Russia’s NATO Enlargement Redlines’, Wikileaks, 1 February 2008.
5 C. Caldwell, ‘The War in Ukraine May Be Impossible to Stop. And the U.S. Deserves Much of the Blame’, The New York Times, 31 May 2022.
6 NATO, ‘‘Post-Orange Ukraine’: Internal dynamics and foreign policy priorities’, NATO Parliamentary Assembly, October 2011, p.11.
7 BBC, ‘Ukraine crisis: Transcript of leaked Nuland-Pyatt call’, BBC, 7 February 2014.
8 M.M. Abrahms, ‘Does Ukraine Have Kompromat on Joe Biden?’, Newsweek, 8 August 2023.
9 A. Entous and M. Schwirtz, 2024. ‘The Spy War: How the C.I.A. Secretly Helps Ukraine Fight Putin’, The New York Times, 25 February 2024.
10 A. Entous and M. Schwirtz, 2024. ‘The Spy War: How the C.I.A. Secretly Helps Ukraine Fight Putin’, The New York Times, 25 February 2024.
11 Aron, R., 1966. Peace and War: A Theory of International Relations. Doubleday, Garden City, p.584.