Erinnerungen an eine ausgewogene Sicht auf China
Aus: Helmut Schmidt «Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China»
von Reinhild Felten, Deutschland
(10. Mai 2021) Helmut Schmidt (1918–2015) war von 1974 bis 1982 deutscher Bundeskanzler und seit 1983 Mitherausgeber der «ZEIT». Er zählt nach wie vor zu den bekanntesten und beliebtesten Politikern und Publizisten in Deutschland. In seinem 2013 erschienenen Buch «Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China»* vermittelt Helmut Schmidt eine für einen deutschen Politiker ungewöhnlich ausgewogene, wohlwollende Sicht auf China.
Auf vielen Reisen nach China und in den Fernen Osten hat Helmut Schmidt immer wieder mit verschiedenen Politikern gesprochen. Auch Deng Xiaoping, der die Politik der Volksrepublik China seit den späten siebziger Jahren führte, traf er wiederholt zu Gesprächen. Mit Lee Kuan Yew, dem ersten Premierminister Singapurs, der sein Land einst in die Unabhängigkeit führte, verband ihn sogar eine langjährige Freundschaft. So gewann er ein kenntnisreiches, differenziertes Bild von China. Einige Gespräche mit diesen beiden Politikern sind im Buch dokumentiert. Das erste Kapitel fasst Schmidts Eindrücke zusammen.
Respekt und Achtung vor 4000-jähriger Geschichte
Helmut Schmidt hält China für eine entscheidende Weltmacht des 21. Jahrhunderts und rät der westlichen Welt, diesem Land mit Respekt und Achtung vor dessen 4000-jährigen Geschichte und seiner grossen Entwicklung zu begegnen – einer Geschichte, in der militärische Eroberungen nur sehr selten vorkamen. Es ist wohl eine unselige Spätfolge der Kolonialgeschichte, dass die Vereinten Nationen die Volksrepublik China als rechtmässige Vertretung Chinas erst 1971 anerkannten, Deutschland auf Schmidts Betreiben hin erst 1972 und die USA 1979.
Ein «Geniestreich»: Sonderwirtschaftszonen in Hafenstädten
Insgesamt zeigt Helmut Schmidt grosse Hochachtung vor Deng Xiaopings Weg der Reformen seit 1978. Er nennt ihn den «grossen Motor, der China antreibt zu Realismus und Pragmatismus». In seinen Augen ist Deng «einer der erfolgreichsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts». Als «Geniestreich» bezeichnet Schmidt die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen. Diese wurden in Hafenstädten errichtet, weil von da aus der Anschluss an die Weltwirtschaft leichter zu bewältigen war. Der Ex-Kanzler sagt: «Wenn man sich die innerlich und äusserlich zerrissene Situation Chinas während fast der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, wenn man sich zusätzlich die Ära Mao Zedongs mit ihren vielen Millionen Hungertoten und den ungezählten Opfern der sogenannten Kulturrevolution vor Augen hält, dann grenzt der ökonomische Wiederaufstieg des Landes an ein Wunder.» Schmidt betont: «China ist heute eine ökonomische Weltmacht, deren Währungsreserven sich auf über 3000 Milliarden Dollar belaufen – was in der Weltgeschichte ohne Beispiel ist.»
Sich ein eigenes Bild machen
Vorsichtig beurteilt Schmidt die Tiananmen-Tragödie im Juni 1989, die eine tiefgreifende Unterbrechung der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung zur Folge hatte. Damals wurden lokale Studentenproteste mit militärischen Mitteln niedergeschlagen. Dieses Ereignis wurde von den Medien und der öffentlichen Meinung im Westen als Unterdrückung einer generellen Freiheitsbewegung dargestellt (Schmidt: «übertreibende westliche Medienberichterstattung»), was zu grosser Empörung führte. Westliche Politiker sagten Besuche und Gespräche ab, und man verhängte ein Waffenlieferungsembargo. Schmidt selbst flog 1990 nach Peking, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Er sprach mit chinesischen Amtsträgern, mit dort tätigen westlichen Diplomaten, Journalisten, Geschäftsleuten wie auch Privatleuten. Deng Xiaoping erklärte ihm dezidiert, wie die Situation entstanden war und räumte ein, Fehler gemacht zu haben.
In aussenpolitischer Hinsicht sieht Schmidt eine Reihe von Fragen, die sich China stellen. Noch werden Friede und Stabilität in der Region vom Machtgleichgewicht zwischen Amerika und China aufrechterhalten. Der Streit um mehrere kleine Inselgruppen lasse aber Unruhe entstehen. In Japan sowie in China würden sich wieder nationalistische Tendenzen entwickeln, und Peking befürchte im Falle einer Wiedervereinigung Koreas, dass dann der Einfluss Washingtons bis an die Grenze zu China reichen würde.
Beträchtliche Spannungen zwischen Arm und Reich
Die eigentlichen Probleme des Landes sieht der Alt-Bundeskanzler jedoch im Innern: Wegen der von Mao eingeleiteten Ein-Kind-Politik und dem sich trotzdem fortsetzenden Bevölkerungswachstums seien die produktiven Jahrgänge ausgedünnt. Dadurch ergäben sich grosse Schwierigkeiten beim Aufbau einer umfassenden Altersversorgung. Ein zweites Problem liege in den grossen Unterschieden im Lebensstandard zwischen den Küstenregionen und dem Landesinneren. In weiten Teilen des Landes fehle die notwendige Infrastruktur. Die Folge sei, dass die Menschen aus den Dörfern in die aufsteigenden Provinzen an der Küste ziehen und dort Arbeit suchen. Heute (2013) gäbe es zwischen hundert und zweihundert Millionen Wanderarbeiter. Sie würden ausgebeutet und hätten weder Rechtsschutz noch eine Altersversicherung. Die Spannungen zwischen Arm und Reich seien beträchtlich. Dieses Problem sei der chinesischen Führung aber sehr bewusst. Schmidt sieht es als vorrangige Aufgabe der chinesischen Führung an, diese Menschen, die auf dem Land keine Arbeit mehr finden, in andere Beschäftigungen zu bringen. Weitere Probleme hätten sich durch die Industrialisierung ergeben. China sei angewiesen auf den Import von Rohstoffen, besonders Öl und Gas. Ausserdem seien riesige Umweltprobleme vorhanden. Trotz dieser verschiedenen Probleme schätzt Schmidt die innenpolitische Situation als relativ stabil ein. Tatsächlich gäbe es Jahr für Jahr Tausende von Demonstrationen, die von der Regierung indes nicht unterdrückt würden. Diese richteten sich nämlich jeweils gegen lokale Missstände und nicht gegen das Regime der kommunistischen Partei.
Positive Zukunftszeichen im Zuge marktwirtschaftlicher Neuerungen
Schmidt stellt fest, dass das System der Einparteienherrschaft in China vielen Amerikanern und Europäern zutiefst suspekt sei, da es den politischen Traditionen des Westens widerspreche. Er selbst beurteilt die Lage wohlwollender: «Im Lichte der chinesischen Geschichte aber erscheint mir die politische Stabilität, die dieses System gewährleistet, als zweckmässig, ja wohltuend – sowohl für das chinesische Volk als auch für seine Nachbarn.» Er sieht auch positive Zukunftszeichen: «Im Zuge der marktwirtschaftlichen Neuerungen wird sich die autoritäre politische Struktur zweifellos wandeln. Deutliche Zeichen eines sich allmählich entwickelnden Rechtsstaates sind bereits erkennbar. Man muss der weiteren Entfaltung jedoch Zeit lassen. Jeder Versuch, von aussen einzugreifen und den Prozess zu beschleunigen, könnte grosses Unheil auslösen.»
China bleibt aussenpolitisch vorsichtig
Den ehemaligen Staatsmann interessiert natürlich auch die Frage: «Was hat der Westen in näherer Zukunft von China zu erwarten?» Schmidt sieht voraus, dass China ein schnelleres Wachstum erreichen kann als irgendein europäisches oder nordamerikanisches Land, und dass der Lebensstandard steigen wird. In den Naturwissenschaften und im Bereich der neuen Technologien werde das Land schnell aufrücken. Trotzdem bleibe es noch einige Zeit auf dem Niveau eines Schwellenlandes. Er geht davon aus, dass China aussenpolitisch vorsichtig bleiben und keinen Konflikt mit einer anderen Weltmacht heraufbeschwören werde. «Zugleich», sagt er, «wird Peking darauf drängen, dass China respektiert wird; es wird insbesondere auf dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen beharren. Etwaige Provokationen wird man gelassen abwehren.»
Wie soll sich der Westen China gegenüber verhalten?
Schliesslich wirft Schmidt die Frage auf: «Wie soll sich der Westen China gegenüber verhalten, wie soll er auf die Herausforderung reagieren?» Seine Antwort erscheint derart grundlegend und ernsthaft, dass sie hier im Wortlaut wiedergegeben werden soll: «Drei Punkte sind aus meiner Sicht für ein friedliches und kooperatives Nebeneinander unabdingbar. Erstens: Verzicht auf westliche Überheblichkeit, stattdessen Respekt gegenüber der ältesten Kulturnation der Welt. Zweitens: Volle Einbeziehung Chinas als gleichberechtigter Partner in allen multinationalen Organisationen, in denen globale Fragen – Wirtschaft, Finanzen, Klima, Abrüstung – verhandelt werden. Drittens: Keine Widerstände gegen die zu erwartende Annäherung Taiwans an die Volksrepublik China und die daraus sich ergebende friedliche Wiedervereinigung.»
Vor allem müssten die westlichen Politiker – so Schmidt – begreifen, dass harter Wettbewerb und politische Zusammenarbeit sich keineswegs gegenseitig ausschliessen. Der Westen könne den weiteren ökonomischen und technologischen Aufstieg Chinas nicht verhindern, schon gar nicht, indem er sich der politischen Zusammenarbeit verweigere oder politischen Druck auszuüben versuche. Westliche Politiker sollten Abstand davon nehmen, nach Peking zu reisen, um der dortigen Führung Belehrungen in Menschenrechtsfragen zu erteilen. Angst vor China zu verbreiten sei ebenso wenig ein geeignetes Mittel, auf die Herausforderung zu reagieren. «Wie auch immer wir uns verhalten, eines müssen wir wissen: China wird beim Wiederaufstieg zur Weltmacht seinen eigenen Weg gehen.»
* Helmut Schmidt: «Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China» (Siedler-Verlag, München 2013. ISBN 978-38-2750-034-2)
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Wer war Helmut Schmidt? – Ein Beitrag der Redaktion
Einsatz für Völkerverständigung und Frieden
Helmut Schmidt wurde 1918 geboren und verstarb 2015. Als junger Mann nahm er als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Nach dem Krieg trat er der SPD bei und engagierte sich aktiv. Von 1974 bis 1982 war er Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.1
Zu seiner Motivation äusserte er sich 2008 folgendermassen: «Ehrgeiz ist ein Begriff, den ich auf mich nicht anwenden würde; natürlich lag mir an öffentlicher Anerkennung, aber die Antriebskraft lag woanders. Die Antriebskraft war typisch für die Generation, der ich angehört habe: Wir kamen aus dem Kriege, wir haben viel Elend und Scheisse erlebt im Kriege, und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland. Das war die eigentliche Antriebskraft.»2
Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten
In der Aussenpolitik legte Schmidt grossen Wert auf das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten. Kritisch bezog er 2002 Stellung zu sogenannten «humanitären Interventionen» wie auf dem Balkan: «Leider erleben wir, was das Völkerrecht angeht, im Augenblick nur Rückschritte, nicht nur bei den Amerikanern, sondern auch auf deutscher Seite. Was wir im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina gemacht haben, verstiess eindeutig gegen das damals geltende Völkerrecht.»3
Suche nach Lösungen für anstehende Menschheitsfragen
Auch nach seiner Amtszeit als Bundeskanzler setzte sich Helmut Schmidt aktiv für Völkerversöhnung und -verständigung sowie für den Frieden ein. Dazu gründete er zahlreiche Stiftungen und internationale Organisationen oder arbeitete in bestehenden mit, in denen hochrangige Staats- und Religionsführer im Dialog nach Lösungen für anstehende Menschheitsfragen suchten. 1983 gründete er zusammen mit dem ehemaligen japanischen Premierminister Takeo Fukuda das InterAction Council (IAC) – einen losen Zusammenschluss früherer Staats- und Regierungschefs. Hans Küng hatte im Rahmen dieses Gremiums eine «Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten» formuliert.
Humanistische Werte trotz Nationalsozialismus
Seine Jugend erlebte Helmut Schmidt in der Zeit des Nationalsozialismus. Er hatte aber das Glück, in der Oberrealschule von Erna Stahl (1900–1980) unterrichtet zu werden, einer engagierten reformpädagogischen Lehrerin, die alles daran setzte, ihre Schüler mit den humanistischen Werten unserer Kultur vertraut zu machen. Ihre menschliche Haltung zeigte sich unter anderem darin, dass sie den Unterricht so weit möglich von nationalsozialistischen Infiltrationen freihielt. Eines Tages wurde sie «wegen planmässiger Verseuchung der Jugend» von der Gestapo verhaftet und musste mit der Todesstrafe rechnen. Sie wurde jedoch am Ende des Krieges von amerikanischen Soldaten befreit. Im Rückblick (2008) stellte eine Schülerin aus der letzten Abiturklasse (1943) vor Erna Stahls Inhaftierung noch einmal deren nachwirkende Verdienste heraus:
«Jenseits aller damals vorgeschriebenen Ideologie hat sie uns mit den grossen Strömungen der europäischen Geistesgeschichte, mit Epochen, Repräsentanten, mit Kunstwerken und Dichtung so vertraut gemacht, dass wir nach 1945 ohne Bruch, ohne «Re-Education» das Erbe weitergeben konnten. Dieses grosse Geschenk eines ideologiefreien, musisch geprägten, wunderbar menschenbildenden Unterrichts haben wir als Schüler, fürchte ich, einfach als selbstverständlich hingenommen und erst später, in der Rückschau, als das grosse Privileg erkannt, das es war.»4
Es ist anzunehmen, dass die Haltung dieser beherzten Lehrerin auch zu Helmut Schmidts späterer aufrechten Haltung gegenüber Krieg und Frieden beigetragen hatte.
Wehrdienst im Zweiten Weltkrieg
Als 17-jähriger Schüler wurde er 1936 wegen «zu flotter Sprüche» aus der Marine-Hitlerjugend ausgeschlossen. Nach dem Abitur meldete er sich wie die meisten seiner Altersgenossen zum Wehrdienst und nahm am Zweiten Weltkrieg teil. Unter anderem wurde er zur Leningrader Blockade kommandiert. Die Schauprozesse des Volksgerichtshofs unter dem Vorsitzenden Roland Freisler widerten ihn an. Als er sich kritisch über Hermann Göring und das NS-Regime äusserte, sollte er vor ein NS-Kriegsgericht gestellt werden. Zwei Generäle konnten das verhindern. Schmidt geriet im April 1945 in britische Kriegsgefangenschaft.
Im Juni 1945 hörte er in einem belgischen Gefangenenlager einen Vortrag von Hans Bohnenkamp, einem Hochschullehrer der Pädagogik, mit dem Titel Verführtes Volk. Nach diesem Vortrag habe er, schrieb er später, die letzten «Illusionen» über den Nationalsozialismus verloren.
Helmut Schmidt: Einer der letzten grossen deutschen Politiker
Helmut Schmidt war einer der letzten grossen deutschen Politiker, die den Nationalsozialismus und den Krieg noch miterlebt hatten und die wussten, was Diktatur und Krieg bedeuten. Daraus ergab sich seine Entschlossenheit, Völkerverständigung herbeizuführen, weil die Alternative dazu – der Krieg – unter allen Umständen verhindert werden musste.
Leider lassen viele unserer heutigen Politiker dieses Format und diese klare Zielsetzung vermissen und spielen allzu leichtfertig mit dem Feuer.
1 Alle Informationen in diesem Artikel über Schmidts Werdegang wurden aus Wikipedia entnommen.
2 Unsere Soldaten hatten keine kollektive Ehre. In: Die Welt, 20. Dezember 2008; Gespräch mit Ulrich Wickert.
3 Helmut Schmidt: Türkei passt nicht in die EU. In: Hamburger Abendblatt 13. Dezember 2002.
4 Ursula Meier (Hrsg.): Erna Stahl – Zeugnisse ihres Wirkens im Hamburger Schulwesen nach 1945 und Betrachtungen aus ihrer späteren Lebenszeit. Mit einem Beitrag: Erna Stahls Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2010, ISBN 978-3-8300-5473-3, S. 447 (Eva Schmidt geb. Rimkeit: Gesprächsnotizen für ein Interview mit Wolfgang Peper, Ansgarkirche Hamburg-Langenhorn. 9. November 2008)