Buchbesprechung
Europa muss sich emanzipieren – um den Frieden zu bewahren
Michael Lüders fordert eine Demokratisierung Europas
von Robert Seidel
(17. Juli 2021) Michael Lüders legt mit seiner neusten Veröffentlichung schonungslos offen, wie sich Europa in der Abhängigkeit der Hegemonialmacht USA befindet. Für Lüders kann der Weg aus dieser Abhängigkeit nur über ein einiges demokratisiertes Europa führen, nicht zuletzt deshalb, weil Europa sonst das zukünftige Schlachtfeld eines Krieges zwischen den USA und Russland bzw. China sein wird.
Michael Lüders beschreibt an einzelnen aktuellen Beispielen, wie die europäischen Staaten im Kampf um die Weltherrschaft von den USA immer wieder instrumentalisiert werden. Dabei kann er auf viele konkrete Beispiele zurückgreifen, die in ihrer Gesamtheit deutlich machen, wie wenig selbständig Europa ist.
«Gelenkte Demokratie»
Natürlich wirft er die Frage auf, wie es kommen kann, dass die breite Bevölkerung diesen Weg so willfährig mitgeht. In einer klaren Analyse beschreibt er, wie sich die Staaten des Westens zu «gelenkten» Demokratien entwickelt haben. Also weiterhin von einer kleinen Elite geführt werden. Dazu zieht Lüders eine Linie vom Ersten Weltkrieg bis heute. Walter Lippmann und Edward Bernays stehen für die Tradition einer gezielten Massenmanipulation über die mit der Macht verzahnten Medien. Lüders nennt viele Namen und zeigt die Zusammenhänge an Europa auf.
Man kann festhalten, dass seine Analyse das Ergebnis einer vertieften, breiten internationalen Debatte ist, die schon seit über 30 Jahren andauert und in der die Rolle der Mainstream-Medien, der Geheimdienste, der «transatlantischen» Organisationen sowie die Rolle des US-amerikanischen Establishments während der vergangenen 120 Jahre diskutiert wird. So weiss man heute um die verschiedenen Faktoren, die zur Abhängigkeit Europas von den US-Eliten führten. Lüders formuliert sie klar und deutlich aus.
Aktuelle Beispiele
Da Lüders Schwerpunkt der Nahe Osten ist –, er ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, in Nachfolge von Peter Scholl-Latour –, kann er mit vielen aktuellen Beispielen aus dieser Region aufwarten, die sich für Aussenstehende nicht leicht erschliessen lassen. So erfährt man in westlichen Medien kaum, mit welchen Problemen Iran kämpft, wie es sich selbst versteht und warum die Situation heute so verzwickt ist.
Nun stellt sich natürlich wieder die alte Frage, was eine Militärmacht Europa anders machen würde, als Machtpolitik zu betreiben. Wohltuend ist hier Lüders Verweis auf einen «Weltethos», wie ihn der jüngst verstorbene Theologe Hans Küng fordert. Es braucht eine umfassende moralische Grundlage für menschliches und politisches Handeln, wenn dieser Planet nicht in einer atomaren Katastrophe verschwinden soll.
Macht und Herrschaft demokratisch erneuern
Lüders Analyse endet 2020. Die Diskussion um den «Great Reset» und den «New Green Deal» konnte er noch nicht mit einbeziehen. So mag es verständlich sein, dass er auf die «Fridays for Future» setzt und sich von ihnen Positives verspricht. Es ist verdienstvoll, dass Lüders einen grossen Teil des Räderwerks der Macht gut nachvollziehbar beschreibt. Diese Analyse kann helfen, auch die jüngsten Entwicklungen zu verstehen. So endet sein Buch mit der Aufforderung sich zu emanzipieren: «Keinesfalls ist der Einzelne machtlos. Allerdings benötigt er Verbündete, Gleichgesinnte und einen klaren Kopf, das grosse Ganze zu erkennen. […] Die Herausforderung besteht darin, Macht und Herrschaft demokratisch zu erneuern und vor allem transparent zu gestalten. Die Interessen der Wenigen nicht über die der übrigen 90, wenn nicht 95 Prozent zu stellen. Propaganda und «Öffentlichkeitsarbeit» zu durchschauen und ihnen andere, den Menschen zugewandte, wahrhafte «wertorientierte» Erzählungen entgegenzusetzen. Andernfalls wäre der Weg jedes Einzelnen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit noch ein sehr weiter.» (S. 274).
Auf dem Hintergrund der Lektüre von Lüders jüngster Publikation, erscheint eine weiteres «Wallfahren» nach Brüssel intellektuell kaum noch nachvollziehbar.
Michael Lüders. Die scheinheilige Supermacht. Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen. C.H.Beck, München 2021, 294 Seiten.
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