Nie wieder gegen Russland!

Michael Felten (Bild zvg)

von Michael Felten, Köln

(17. Juli 2021) Eine persönliche Sicht auf das deutsch-russische Verhältnis, anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion – inspiriert von einem Besuch in Sankt Petersburg. In Anbetracht der aktuellen antirussischen Kriegstreiberei von Medien und Politik sind es vor allem die zahlreichen Friedensinitiativen von Bürgern, die eine Verständigung zwischen den Völkern retten können.

In einer Freundesgruppe waren wir für 10 Tage nach Sankt Petersburg aufgebrochen, der zweitgrössten Stadt Russlands. Ihrer vielen Wasserläufe wegen heisst die Stadt auch «Venedig des Nordens», bei Touristen ist sie beliebt wegen der Kunstschätze, der prachtvollen U-Bahn, ihrer Stadtatmosphäre. Das haben wir alles gesehen, aber jetzt, in einem Aussenbezirk, stehe ich in einer weiten Parkanlage, vor einer riesigen weiblichen Statue, die die Arme ausbreitet, «Mutter Heimat» – und kämpfe tatsächlich mit den Tränen.

Ich bin historisch nicht gänzlich unbeleckt, aber mir war bisher einfach nicht klar, welch furchtbares Unheil die deutsche Wehrmacht in dieser Gegend im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat.

Eine von Hitlers Wahnideen war gewesen, den europäischen Teil Russlands als Versorgungsraum für die arische Rasse zu kolonisieren. Russen sah er dabei als «Untermenschen» an, die er nicht einfach besiegen, sondern lieber gleich ausrotten wollte. Daher der Plan, Leningrad (und eigentlich auch Moskau) gar nicht erst zu erobern, sondern die Menschen durch Totalblockade einfach verhungern zu lassen. So mussten allein hier – während 900 Tagen, darunter drei bitterkalten Wintern – über eine Million Zivilisten elend ihr Leben lassen. Würde man an jeden Einzelnen nur eine einzige Minute denken, wäre man zwei Jahre beschäftigt. Als Besucher aus Köln kann ich es eigentlich kaum fassen, wie freundlich man hier heute zu uns ist.

«Mutter Heimat» auf dem Piskarjowkoje-Gedenkfriedhof in
St. Petersburg. Hier ruhen etwa eine halbe Million
Belagerungsopfer der deutschen Wehrmacht. (Bild gk)

Mittlerweile sagen auch westliche Historiker: Die Blockade Leningrads war eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht. Aber sie war nur ein Teil des Horrors, der von Deutschland vor 80 Jahren gen Osten vorstiess. Der gesamte Angriffskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion kostete mindestens 24 Millionen Sowjetbürgern das Leben, diese Menschen haben am meisten für unsere Befreiung von der NS-Zeit geblutet. Es müsste also für uns Deutsche eigentlich nicht nur heissen: Nie wieder Auschwitz!, sondern auch: Nie wieder gegen Russland!

Seit einem guten Jahrzehnt aber wird eine neue russische Gefahr heraufbeschworen – weil der russische Bär sich nicht westlichem Führungsanspruch beugen wollte? Staatschef Putin habe bereits die Krim annektiert, nun müssten wohl die baltischen Staaten um ihre Existenz bangen. Dabei war es die Nato, die sich absprachewidrig weit gen Osten ausgedehnt und vor Moskaus Haustüre Waffensysteme installiert hat, die die russische Raketenabwehr ausser Kraft setzen könnten. Aber abwägende Stimmen dringen im neoaggressiven Unisono der Leitmedien nicht recht durch. Dem Quasidiktator müsse man frühzeitig die rote Karte zeigen – und auch zu militärischem Handeln bereit sein. Eine Art Vormobilmachung, bei der einem angst und bange werden sollte.

Unterhalb dieser riskanten hohen Politik gibt es indes Regungen und Kräfte, die hoffnungsvoll stimmen könnten. So existieren zahlreiche deutsch-russische Freundschaftsgesellschaften – Zusammenschlüsse von jüngeren wie älteren Bürgerinnen und Bürgern, die von russischer Kultur angetan sind, die die Herzlichkeit der russischen Bevölkerung schätzen, die das riesige Reich im Osten immer wieder besuchen. Russland ist offenbar nicht nur «von oben» attraktiv (so kürzlich eine ZDF-Doku), man erlebt dort bei Menschen aller Schichten grosse Herzlichkeit, wird gerne beschenkt.

Nicht zuletzt waltet hier wohl auch die Überzeugung, dass grenzübergreifende Kontakte vielleicht das Einzige sind, was einfache Menschen dem riskanten Zündeln des militärisch-industriellen Komplexes entgegenzusetzen vermögen.

Besonders häufig stösst man auf solche Vereinigungen übrigens in Ostdeutschland – zu DDR-Zeiten verordnet, jetzt aber in Freiheit weitergeführt. Zwar traten die Russen in Sachsen oder Brandenburg zunächst als rigorose Besatzungsmacht auf, mit der Zeit aber ergaben sich Freundschaften, wurden Familien gegründet, fuhr man in die Sowjetunion zum Studium oder in Urlaub. Heute findet man bundesweit eine grosse Vielfalt an Städtepartnerschaften (z.B. Köln – Wolgograd oder Düsseldorf – Moskau), es gibt die «Freunde der Völker Russlands» (in Berlin), ein «Jugendparlament Bonn – Kaliningrad» tagt in Bonn. Der Volksbund Kriegsgräberfürsorge ist in Russland aktiv, ein Freundeskreis druschba-global unternimmt jährliche Friedensfahrten, der Schriftsteller Wolfgang Büscher ging alleine zu Fuss von Berlin bis Moskau.

Schon aus Eigennutz müssten wir Deutsche alles Erdenkliche dafür tun, dass sich keine neuen Ost-West-Feindbilder verfestigen. Sollten die USA und ihre Verbündeten nämlich Russland über das Äusserste hinaus reizen, wäre es Deutschland, das zum atomaren Gefechtsfeld würde.

Die Völkerverständigung könnte allerdings noch frisches Blut gebrauchen. Junge Menschen, die nicht in Identitätsfragen steckenbleiben, sondern ihre Zeit handfesten Problemen widmen möchten. Der humane Blick gen Osten, das meint nicht primär Gedenkstättenbesuche, da winkt vielmehr das Suchen und Finden von Interessantem, Spannendem und Reizvollem.

Der Schriftsteller Bert Brecht war ja der Meinung, 100 entschiedene Menschen könnten eine Revolution auslösen. Ob vielleicht auch 1000 Engagierte einen nächsten Krieg gegen Russland verhindern können – oder zumindest erschweren? Man könnte immerhin im Herbst keine Partei wählen, die «die Ukraine bewaffnen» und den «Druck auf Moskau erhöhen» will.

Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/?p=73580 vom 22. Juni 2021

Zur Rede des deutschen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vom 21. Juni 2021

gk. Michael Felten schildert in seinem Artikel, wie bewegend und bereichernd es ist, das Schicksal der Menschen an sich herankommen zu lassen und die versöhnliche Haltung der russischen Bevölkerung vor Ort zu erleben.

In seiner eindrücklichen Rede zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erinnert der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die kriegerischen Verbrechen des Naziregimes. Seiner Aufforderung zur Versöhnung mit Russland und den anderen Völkern der ehemaligen Sowjetunion ist nichts hinzuzufügen. Was bleibt, ist daran mitzuwirken, dass zukünftig von Deutschland und Europa Frieden und kein Krieg mehr ausgeht.

Es lohnt sich, die vollständige Rede zu lesen:

https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/06/210618-D-Russ-Museum-Karlshorst.html

Hier können nur einige wenige Ausschnitte dokumentiert werden:

  • «Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid, und unsere Verantwortung, es fordern. Dieser Krieg war ein Verbrechen – ein monströser, verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg. Wer heute an seine Schauplätze geht, wer Menschen begegnet ist, die von diesem Krieg heimgesucht wurden, der wird an den 22. Juni 1941 erinnert – auch ohne Gedenktag und Mahnmal.»
  • «Spuren dieses Krieges finden sich in alten Menschen, die ihn als Kinder erlebten, und in den jüngeren, in ihren Enkeln und Urenkeln. Man findet sie von der Weißmeerküste im Norden bis zur Krim im Süden, von den Ostsee-Dünen im Westen bis Wolgograd im Osten. Es sind Zeichen des Krieges, Zeichen der Zerstörung, Zeichen des Verlustes. Zurück blieben Massengräber – «Brudergräber», wie man auf Belarussisch, Ukrainisch und Russisch sagt.» […] «Doch tun wir Deutsche das? Schauen wir überhaupt dorthin, in den viel zu unbekannten Osten unseres Kontinents?» […]
  • «Wir sollten uns erinnern, nicht, um heutige und künftige Generationen mit einer Schuld zu belasten, die nicht die ihre ist, sondern um unserer selbst willen. Wir sollten erinnern, um zu verstehen, wie diese Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Nur wer die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart lesen lernt, nur der wird zu einer Zukunft beitragen können, die Kriege vermeidet, Gewaltherrschaft ablehnt und ein friedliches Zusammenleben in Freiheit ermöglicht.» […]
  • «Meine Bitte ist: Machen wir uns an diesem Tag, an dem wir an Abermillionen Tote erinnern, auch gegenwärtig, wie kostbar die Versöhnung ist, die über den Gräbern gewachsen ist. Aus dem Geschenk der Versöhnung erwächst für Deutschland grosse Verantwortung. Wir wollen und wir müssen alles tun, um Völkerrecht und territoriale Integrität auf diesem Kontinent zu schützen, und für den Frieden mit und zwischen den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu arbeiten.» […]
  • «Ich verneige mich in Trauer vor den ukrainischen, belarussischen und russischen Opfern – vor allen Opfern der ehemaligen Sowjetunion. Arbeiten wir für eine andere, für eine bessere Zukunft. Es liegt in unser aller Hände.»

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