Zwei mal zwanzig Jahre

Wilfried Schreiber (Bild zvg)

Der neue Vertrag zwischen China und Russland

von Wilfried Schreiber,* Deutschland

(18. November 2021) Angesichts des Desasters der zwanzigjährigen westlichen Militärpräsenz in Afghanistan ist ein Ereignis auf der politisch-diplomatischen Ebene hierzulande unbeachtet geblieben, dessen geostrategische Dimension aber ebenso bedeutsam ist. Es handelt sich um die Verlängerung des «Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und der Volksrepublik China» um weitere 20 Jahre. Die Vertragsverlängerung vom Juni 2021 und die gemeinsame Erklärung beider Länder könnten bei der Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges von Nutzen sein.

In der Erklärung1 betonen beide Seiten, dass sich die russisch-chinesischen Beziehungen auf der Basis des Vertrags von 2001 erfolgreich entwickelt haben und nunmehr einen «wirklich strategischen Charakter» erhalten. Dabei verfolgen beide Staaten den Anspruch, ein Modell für einen neuen Typ zwischenstaatlicher Beziehungen zu schaffen. So formuliert man konzeptionelle Aussagen zu einer neuen Weltordnung. Dabei geht es im Kern zunächst um die Ablehnung des Anspruchs der USA, ihre Hegemonialrolle weltweit durchzusetzen. Die Erklärung bezieht sich auf die Argumentation der USA mit der Formel von der «regelbasierten Ordnung», die als Massstab für alle internationalen Beziehungen gelten müsse. Gemeint sind dabei jedoch Verhaltensnormen, die vorrangig den Interessen und Werten des Westens entsprechen. Insbesondere handelt es sich um solche Kategorien wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, die einseitig interpretiert und in den Mittelpunkt einer moralisierenden Aussenpolitik gestellt werden, ohne damit völkerrechtlich legitimiert zu sein.

Die Gemeinsame Erklärung geht davon aus, dass es kein Zurück hinter die von der UN-Charta gesetzten Normen geben darf. Nur die darauf basierenden Regeln entsprechen den Grundsätzen der Gleichberechtigung und nationalen Souveränität, die für alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gelten. Insofern wird von Russland und China das Konzept der «regelbasierten Ordnung» dezidiert abgelehnt, da es darauf abzielt, nur die westliche Lebensweise als einzig akzeptables Modell für die gesamte menschliche Zivilisation anzuerkennen. Dieser universalistische Anspruch ist in Afghanistan nach einer zwanzigjährigen Missionierungs- und Regime-Change-Politik krachend gescheitert.

Angesichts dieses Debakels sollte es vom Westen als Chance begriffen werden, dass die russisch-chinesische Erklärung eine Einladung an den transatlantischen Westen zur Führung eines strategischen Dialogs über die Zukunft der Erde ausspricht. Dabei gehen Russland und China davon aus, dass in der Welt von heute vor allem den Kernwaffenstaaten eine besondere Verantwortung zukommt. Die Gemeinsame Erklärung wendet sich daher direkt an die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und mahnt sie, als führende Kernwaffenmächte dieser Verantwortung gerecht zu werden. Sie schlägt dazu ein Gipfeltreffen der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vor.

Der transatlantische Westen ist gut beraten, das Angebot Russlands und Chinas für Dialog und Kooperation anzunehmen. Die Situation ist günstig, da alle Welt nach Lehren aus dem Afghanistan-Debakel ruft. Angesichts der Kompliziertheit der dortigen Situation sind pragmatische und realpolitische Lösungen gefragt. Die zunehmende Konfrontation in der Welt muss überwunden werden.

Da kann die Rivalität zwischen einer «Liga der Demokraten» und einer «Liga der Autokraten» nicht hilfreich sein. Auf der Agenda steht die Frage nach einer Weltordnung des Völkerrechts und des Multilateralismus. Das aber setzt voraus, dass der transatlantische Westen seinen neokolonialistischen Anspruch aufgibt, einzig akzeptables Zivilisationsmodell für die Menschheit zu sein.

Für die Lösung dieser Frage dürfte die Haltung der Europäischen Union eine wichtige Rolle spielen. Versteht sie sich selbst als geopolitischer Player und Rivale oder vorrangig als Mittler zwischen den grossen Kontrahenten? Die Chance der Europäischen Union, in diesem Wettbewerb zu bestehen, ist nicht die Konfrontation, sondern die weltweite Kooperation. Es ist noch offen, ob die EU die Kraft zur Vernunft findet.

Quelle: WeltTrends. Das aussenpolitische Journal, Nr. 180, Oktober 2021, 29. Jahrgang, S.70–71.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

* Prof. Dr. sc. oec. et Dr. phil. Wilfried Schreiber, geb. 1937, Senior Research Fellow am WeltTrends￾Institut für Internationale Politik, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von WeltTrends, Mitglied im Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa￾Luxemburg-Stiftung, wlschreiber@arcor.de

1 https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A75727/attachment/ATT-0/

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