Schweiz und EU haben sich mit ihrer Sanktionspolitik gegen Russland verrannt
Russen, ob sanktioniert oder nicht, werden im Sinne einer Kollektivstrafe unter Generalverdacht gestellt. Eine Neuorientierung ist überfällig
von Carl Baudenbacher,* Schweiz
(29. März 2024) Am 24. Februar 2024 sind es zwei Jahre her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Die Europäische Union hat daraufhin Sanktionen erlassen, denen sich die Schweiz angeschlossen hat. In Europa hat des Weiteren das Vereinigte Königreich ein eigenes Sanktionsregime aufgezogen. Neben Unternehmen und Organisationen umfasst die Sanktionsliste Einzelpersonen, denen vorgeworfen wird, Handlungen zu unterstützen, zu finanzieren oder auszuführen, welche die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, oder die von solchen Handlungen profitieren. Zu den Sanktionen gehören Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten.
Das Schweizer Sanktionssystem ist durch zahlreiche Unzulänglichkeiten gekennzeichnet. Russen, ob sanktioniert oder nicht, werden im Sinne einer Kollektivstrafe unter Generalverdacht gestellt. Gewisse Schweizer Banken behandeln russische Kunden als Menschen mit minderem Status. Der Ton in Briefen und Emails ist unangemessen.
Russischen Kunden, die das ihnen gehörende Geld abziehen wollen, werden angebliche Regeln entgegengehalten, die gar nicht bestehen. In anderen Fällen sitzt man auf dem hohen Ross, verweist schulterzuckend auf Compliance-Vorschriften und sagt, man könne seinen «guten Ruf» nicht aufs Spiel setzen. Sanktionen von Staaten, zu deren Übernahme die Schweiz gar nicht verpflichtet ist, werden als Vorwand benutzt, um russischen Klienten die Auszahlung ihrer Gelder zu verweigern.
Das Rechtsverständnis gewisser Schweizer Banken betreffend die Tragweite ausländischer Sanktionsregimes und deren «autonome» Umsetzung durch eben diese Banken sowie die Schaffung eigener Sanktions-Compliance-Regeln («Swiss banks’ finish») geben Anlass zu ernsten rechtsstaatlichen Bedenken. Es besteht eine Tendenz, instinktiv jedes internationale Sanktionsregime anzuwenden, und man beruft sich dabei auf eine angebliche extraterritoriale Wirkung.
Ich höre häufig das Argument, die Bank müsse als Schweizer Finanzinstitut, das weltweit Dienstleistungen erbringt, im Rahmen der Schweizer Bankvorschriften auch die ausländischen Gesetze und Vorschriften einhalten. Und sie sei verpflichtet, bei der Auslegung aller Sanktionsbestimmungen einen strengen Ansatz zu verfolgen.
Mit anderen Worten: Die Banken wenden ausländische restriktive Massnahmen an und verleihen ihnen damit eine direkte Wirkung in der Schweiz. Dies hält einer juristischen Prüfung nicht stand.
In einem aktuellen Fall, in dem der Kunde von den britischen Sanktionsbehörden (und nur von diesen) benannt wurde, hat eine in der Vermögensverwaltung tätige Genfer Privatbank die Vermögenswerte blockiert und weigert sich kategorisch, Zahlungsaufträge des Kunden auszuführen, obwohl die britischen Sanktionen aus verschiedenen Gründen nicht auf die fragliche Bankbeziehung anwendbar sind.
Statt auf berechtigte Fragen des Kunden einzugehen und den Dialog mit ihm zu suchen, spielt die Bank auf Zeit in der Hoffnung, dass der Kunde aus Opportunitäts-Überlegungen von rechtlichen Schritten absieht oder auf einer anderen Sanktionsliste landet. Ein solches Verhalten muss sich ein Kunde nicht gefallen lassen. In nächster Zeit ist folglich mit Klagen betroffener Kunden gegen Banken zu rechnen. Muss es wirklich so weit kommen?
Die Behörden haben zu dieser Situation beigetragen. Sie sprechen, mitunter hinter dem Rücken des Kunden, direkt mit den Banken, machen geltend, sie seien überlastet und lassen sich für die Beantwortung kleinster Anfragen reichlich Zeit. In Einzelfällen wird sogar die Unschuldsvermutung auf den Kopf gestellt.
Eine Gesellschaft aus der EU, die in der Schweiz Bankkonten hat und weder in Brüssel noch in Bern sanktioniert ist, wurde von einer Schweizer Bank bei der zuständigen Bundesstelle mit der Behauptung angeschwärzt, dass bei einer grösseren Transaktion Unklarheiten bestehen.
Seither hat sie den gesetzlich nicht vorgesehenen Status eines nicht sanktionierten Unternehmens, das aber auch nicht für sanktionsunverdächtig erklärt wurde. Jede kleine Transaktion muss genehmigt werden. Und das, obwohl die Behörde die Berechtigung der Anschwärzung nicht einmal geprüft hat.
Stossend ist auch die Art und Weise, in der die Sanktionslisten zustandekommen. In der EU finden sich Informationen über die Sanktionierten, bei denen man das Gefühl hat, dass sie von einem Praktikanten durch Googeln zusammengetragen worden sind. Kontaktschuld scheint ausreichend zu sein. So werden munter auch Ehefrauen sanktioniert, deren einziges Vergehen die Ehe zu einem sanktionierten Mann ist. In der Schweiz werden die Listen dann einfach per copy-paste übernommen. Immerhin scheinen im Ausland die Gerichte einzugreifen.
Am 19. Januar 2024 hat das Landgericht Hamburg dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes eine unbelegte Rufmordkampagne gegen den usbekischen Unternehmer Alischer Usmanow untersagt. In der EU und in der Schweiz haben sich Einzelpersonen vor Gericht gegen die Aufnahme in die Sanktionslisten gewehrt. Dabei besteht jedenfalls in der EU eine Tendenz zu einem nicht zu rechtfertigenden Grundrechtsrelativismus.
Der Versuch, Eingriffe in die Eigentumsfreiheit dadurch zu rechtfertigen, dass man geltend macht, sie seien – etwa beim Einfrieren von Vermögenswerten – nur vorübergehender Natur, überzeugt nicht. Wer mit seiner «nuda proprietas» dasteht und sich jede Ausgabe für Bedürfnisse des täglichen Lebens behördlich bewilligen lassen muss, dessen Eigentumsrecht funktioniert nicht mehr, und er weiss nicht, wann beziehungsweise ob es überhaupt wieder funktionieren wird. Er ist in derselben Lage wie der, dessen Eigentum man entschädigungslos konfisziert hat.
Besonders besessen von der Idee der Sanktionen war US-Präsident Woodrow Wilson, der 1919 unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Sanktionen als «etwas Gewaltigeres als Krieg» bezeichnete. Angedroht werde «eine absolute Isolation […], die eine Nation zur Besinnung bringt, so wie das Ersticken dem Individuum jede Neigung zum Kampf nimmt […].» «Wendet dieses wirtschaftliche, friedliche, stille, tödliche Mittel an, und es wird kein Bedürfnis nach Gewalt geben.» […] «Es ist ein schreckliches Mittel. Es kostet kein Leben ausserhalb der boykottierten Nation, aber es übt einen Druck auf diese Nation aus, dem meines Erachtens keine moderne Nation widerstehen könnte.» Ob Wilson selbst an die Richtigkeit seiner Prognose glaubte, ist unbekannt. Tatsache ist aber, dass sie bereits falsifiziert war, als sie abgegeben wurde.
Hier genügt der Hinweis auf das Scheitern der im November 1806 von Napoleon gegen Grossbritannien verhängten Kontinentalsperre. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Sanktionen der USA gegen Kuba und Iran enorme Fehlschläge.
Auch die Russland-Sanktionen der EU und der Schweiz sind ein Fehlschlag. Es kam, wie immer in solchen Fällen, zu Umgehungen. Vertreter des Instituts der deutschen Wirtschaft haben schon im Oktober 2023 festgestellt, dass die Sanktionen «ganz klar gescheitert» sind. Andere Beobachter und sogar Politiker teilen diese Auffassung.
Das aber kann nicht ohne Konsequenzen für die Beantwortung der Frage sein, ob die Sanktionen rechtlich zulässig sind. Die Grundrechtseingriffe werden damit unverhältnismässig.
Der Verhältnismässigkeits-Grundsatz ist ein klassischer europäischer Rechtsgrundsatz. In der Schweiz ist das Verhältnismässigkeits-Prinzip sogar in der Bundesverfassung kodifiziert. Deren Artikel 5 Absatz 2 bestimmt: «Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.»
Der Gerichtshof der Europäischen Union, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der EFTA-Gerichtshof und das Bundesgericht haben eine fein ziselierte Rechtsprechung zum Verhältnismässigkeits-Grundsatz entwickelt, die man folgendermassen zusammenfassen kann: Um rechtmässig zu sein, muss ein Grundrechtseingriff (1) ein legitimes Ziel verfolgen, (2) zur Zielerreichung geeignet sein, (3) zur Zielerreichung erforderlich (das heisst das mildeste Mittel) sein.
Die Russland-Sanktionen verfolgen ein legitimes Ziel, nämlich Russlands Möglichkeiten zur Fortsetzung der Aggression wirksam zu vereiteln. Hingegen fehlt es an der Geeignetheit zur Zielerreichung, und es fehlt an der Erforderlichkeit.
Die EU und die Schweiz haben sich mit ihrer Sanktionspolitik gegen Russland verrannt. Eine Neuorientierung ist überfällig. Bis es so weit ist, müssen vor allem die Grundrechte der Betroffenen geschützt werden. Machtmissbrauch durch Behörden ist nicht zu tolerieren.
Wir in Westeuropa haben das Glück, in Rechtsstaaten zu leben. Unsere Verfassungen (ergänzt durch supranationale Vorschriften wie die EMRK) garantieren jedem, der innerhalb unserer Grenzen wohnt oder arbeitet, Grundrechte. Diese Vorschriften wurden zumeist nach der dunkelsten Zeit dieses Kontinents erlassen.
Der Grundsatz von Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs sollten zudem verhindern, dass Geschäftspartner die Sanktionsregelung als Vorwand für die Missachtung berechtigter vertraglicher Ansprüche nutzen.
Leider scheint die Bereitschaft zu bestehen, sich über die wichtigsten Maximen unseres Rechtssystems hinwegzusetzen, wenn eine Massnahme – auch nur indirekt – auf eine russische Person oder Einrichtung abzielt. Das ist, um mit Talleyrand zu sprechen, schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler.
* Carl Baudenbacher ist ein Schweizer Jurist. Seit Mai 2018 arbeitet er als unabhängiger Schiedsrichter und Berater von Unternehmen, Anwaltsfirmen, Regierungen und Parlamenten, u. a. bei Monckton Chambers in London. 2020 wurde er zum Visiting Professor an der London School of Economics (LSE) ernannt. Seit Mai 2021 ist er Senior Partner von Baudenbacher Law, Zürich. Von 1995 bis April 2018 war Baudenbacher Richter am EFTA-Gerichtshof in Luxemburg, von 2003 bis 2017 dessen Präsident. Von 1987 bis 2013 war er ordentlicher Professor an der Universität St. Gallen (HSG) und zwischen 1993 und 2004 Permanent Visiting Professor an der University of Texas (UT) in Austin. |