Zur schweizerischen Neutralität
Bundesrat eröffnet Debatte um «Neutralitätsinitiative» mit einer Unwahrheit
von Christoph Pfluger,* Solothurn
Liebe Leserinnen und Leser,
Was viele nicht wissen: Die Neutralität gehört zwar zur DNA der Schweiz. Aber in der Verfassung ist sie nicht verankert.
Deshalb konnte sie Aussenminister Ignazio Cassis Ende Februar 2022 ohne Bundesratsbeschluss, ohne Parlamentsentscheid und ohne Volksabstimmung über Bord werfen.
Jetzt gilt so etwas wie die flexible Neutralität. Man darf Wirtschaftskrieg führen und trotzdem behaupten, immer noch neutral zu sein.
Diese «Flexibilisierung» – sprich: Aufhebung – der Neutralität will die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» stoppen, indem Sie das Prinzip und seine Ausgestaltung in der Verfassung definiert.
Wie unangenehm dies für den Bundesrat offenbar ist, zeigt das horrende Tempo, das er für ihre Behandlung eingeschlagen hat.
Horrendes Tempo
Am 11. April 2024 wurde sie eingereicht, am 28. Mai für gültig erklärt und knapp einen Monat später empfiehlt sie der Bundesrat ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung.
Das einmalige Tempo zeigt zweierlei:
- Über die Neutralität soll keine breite Debatte geführt werden;
- die Abstimmung soll stattfinden, solange die Stimmung in der Bevölkerung noch eine Parteinahme für den kollektiven Westen anzeigt.
Bisher keine Regelung der Neutralität in der Verfassung
Der Bundesrat argumentiert unredlich: Er schreibt, «dass sich die bisherige Regelung und Praxis der Neutralität bewährt» habe. Aber in der Bundesverfassung wird die Neutralität gar nicht geregelt.
Der Bundesrat kann die Neutralität also interpretieren, wie er will. Deshalb konnte Aussenminister Cassis die Sanktionen der EU gegen Russland praktisch im Alleingang übernehmen.
Das Argument, es handle sich bei der russischen Invasion in die Ukraine um einen völkerrechtswidrigen Krieg, trifft zwar zu, sticht aber nicht, solange nicht alle völkerrechtswidrigen Angriffskriege von der Schweiz sanktioniert werden. Das hat sie weder beim Krieg der Nato gegen Jugoslawien 1999, der USA gegen Afghanistan 2001 und der von den USA gegründeten «Koalition der Willigen» gegen den Irak 2003 getan.
Falsche Darstellung
Der Bundesrat stellt die Initiative auch falsch dar, wohl kaum aus Unwissenheit, sondern eher aus Kalkül. So schreibt er: «Mit der neuen Verfassungsbestimmung dürfte die Schweiz in Zukunft unter anderem keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten mehr ergreifen.» Das ist Unsinn.
Im Initiativtext heisst es zum Verbot der Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen ausdrücklich:
«Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.» (Abs. 3)
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Bundesrat bereits in seiner ersten offiziellen Stellungnahme zur Neutralitätsinitiative lügt. Das verspricht nichts Gutes für den Abstimmungskampf, der wohl bereits nächstes Jahr geführt werden muss.
Volksentscheide sind heute weniger von Sachverstand geprägt, sondern von Gefühlen. Und die werden mit Slogans von wenigen Worten und eingängigen Bildern geprägt. Auch wenn der Initiativtext kurz ist, werden ihn wohl die wenigsten Stimmbürger lesen, bevor sie zur Urne gehen. Sie werden den Slogans und künstlich geförderten Gefühlen folgen.
Für Neutralität braucht es Vernunft nicht Gefühl
Aber die Neutralität ist keine Frage des Gefühls, sondern der Vernunft. Die Haltung der Schweiz im Ersten Weltkrieg zeigt dies deutlich. Während sich die Deutschschweizer Mehrheit auf Seiten Deutschlands fühlte, stand die Romandie auf Seiten Frankreichs. Trotzdem hat die Schweiz erfolgreich ihre Neutralität aufrechterhalten und auch innenpolitisch Frieden gewahrt.
Die kommende Abstimmung zur Neutralitätsinitiative bereitet mir Sorgen. Zum einen wird sie von Emotionen geprägt sein, zum andern von der «classe politique» und der Verwaltung, die eine Annäherung an die Nato und den Kauf von immer mehr westlichen Rüstungsgütern anstreben, bis wir das Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts erreicht haben. Die traditionell kriegskritischen Linken und Grünen stehen dabei (bisher?) fest im Lager der Nato-Freunde.
Initiative als Risiko?
Die Neutralitätsinitiative, so nötig sie ist, bringt auch ein Risiko mit sich. Wird sie abgelehnt, bedeutet dies die stillschweigende Zustimmung zu ihrer weiteren Flexibilisierung, sprich Aufhebung.
Ohne Schutz der Verfassung, wird die Neutralität den Grossmächten und ihren Handlangern in der Schweiz geopfert. […]
Es geht um die weitere Annäherung an die Nato und letztlich um Krieg und Frieden. Da kann niemand abseits stehen. Corona brachte das Leben zeitweilig zum Stillstand. Ein Krieg wird es beenden.
Abstimmungskampf vorbereiten
Bereiten Sie sich also darauf vor, den Abstimmungskampf um die Neutralität nicht andern zu überlassen. Machen Sie sich fit für einen Einsatz an der direktdemokratischen Front des Friedens. Das tönt vielleicht etwas martialisch. Aber wer den Frieden will, muss dafür sorgen, dass nicht zur Waffe gegriffen wird.
«Widerstand ohne Gegenkraft» können Sie leisten, indem Sie sich jetzt für die Neutralität einsetzen, anstatt später gegen den Krieg. «Gouverner c’est prévoir» lautet eine alte staatsmännische Weisheit. Und wenn der Souverän regieren muss – weil es die Regierung versäumt –, dann müssen wir vorausschauen und entsprechend handeln.
Mit herzlichen Grüssen
Christoph Pfluger, Herausgeber von «Zeitpunkt»
* Christoph Pfluger, geboren 1954 ist ein Schweizer Journalist, Verleger und Buchautor. Er schreibt seit den 1980er Jahren über Fragen des Geldsystems. Seit 1992 gibt er den «Zeitpunkt» heraus, «ein Magazin für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker». |
Quelle: https://mailchi.mp/zeitpunkt/wer-frieden-will-muss-sich-jetzt-fr-die-neutralitt-einsetzen-2888244?e=002064d508, 5. Juli 2024
Weitere Argumente zur Initiative «Wahrung der Neutralität» finden Sie in:
- «Zeitpunkt»-Schwerpunkt-Ausgabe 176 «Können wir noch neutral sein? Oder müssen wir es sogar?»
(hier für Fr. 15.– zu bestellen). - Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Neutralitätsinitiative!
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/aufruf-von-linken-und-gruenen-ja-zur-neutralitaetsinitiative.html - Argumentarium des Initiativkomitees: https://neutralitaet-ja.ch/argumentarium/
- Initiativtext: https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis540t.html