Zur schweizerischen Neutralität
Das Schweizer Parlament in Aufruhr über Waffenexporte in die Ukraine
von Rémy Delalande,* Schweiz
(28. März 2023) [17. März 2023] Das Schweizer Parlament ist in Aufruhr wegen einem Schwall von Vorschlägen, die den Export von in der Schweiz hergestellten Rüstungsgütern in die Ukraine ermöglichen sollen. Zahlreiche Politiker aus allen politischen Lagern befürchten, dass der internationale Ruf der Schweizer Neutralität irreparabel geschädigt werden könnte.
Der aktuelle bewaffnete Konflikt in der Ukraine und das verstärkte militärische Engagement der Nato-Länder, die, um den ukrainischen Streitkräften zu helfen, die russische Militäroffensive zu besiegen, immer mehr Waffen aller Art liefern, haben dazu geführt, dass neutrale Länder wie die Schweiz unter immer stärkeren internationalen Druck geraten, Partei zu ergreifen.
Darauf entflammte eine politische Debatte, in der viele Politiker im Ausland und in der Schweiz nicht davor zurückschreckten, die angebliche Feigheit und egoistische Neutralität der Schweiz anzuprangern, um damit Druck auf die Schweizer Regierung auszuüben und die gesetzlichen Vorgaben für Waffenexporte in die Ukraine zu lockern. Das Bundesparlament ist nun in heller Aufregung, da eine nicht endende Welle von Legislativvorschlägen über die diesjährigen aktuellen und zukünftigen Parlamentssitzungen in der Bundesstadt hinwegrollt.
Die ersten beiden Runden der erbitterten politischen Debatten fanden am 6. und 8. März in beiden Kammern des Parlaments statt. Beide Vorschläge wurden vom gesamten politischen Spektrum mit grosser Skepsis aufgenommen, bevor sie schliesslich abgelehnt wurden. Die folgenden Punkte aus diesen Parlamentsdebatten erläutern, warum:
Gute Dienste zählen langfristig mehr als die Tatsache, dass man selbst Kriegspartei ist
Schweizer Regierungsvertreter waren schon immer gute Vermittler, und ihr Status der Objektivität und Neutralität ist offenbar immer noch sehr gefragt, auch wenn die Hoffnungen der Schweiz, im aktuellen Konflikt als europäischer Vermittler aufzutreten, von Russland mit der Begründung zerstört wurden, dass es sich in Bezug auf eine breite Palette von Finanzsanktionen unmissverständlich auf die Seite der EU gestellt habe. Andere traditionelle neutrale Vermittler, wie Schweden und Finnland, werden bald der Nato beitreten und sind daher aus dem Spiel. Auch Österreich, das oft als kleiner Bruder der Schweiz gesehen wird, steht nicht abseits, da es sich ein Jahr vor der Schweiz den EU-Sanktionen und der Partnerschaft für den Frieden (PfP) der Nato angeschlossen hat.
Die Neutralität ist der Hauptgrund dafür, dass die Schweiz in den letzten 200 Jahren nicht in internationale Konflikte – insbesondere während des Ersten und Zweiten Weltkriegs – verwickelt war, und hat es ihr ermöglicht, sich international als Brückenbauernation zu etablieren, die zum Sitz zahlreicher internationaler Organisationen wurde und gleichzeitig zwischen einzelnen Staaten, die sich in einem Konflikt befanden, vermittelte. Es ist kein Zufall, dass die Schweiz derzeit die diplomatischen und konsularischen Interessen der USA in Kuba und im Iran vertritt.
Die Neutralität ist nach dem 11. September 2001 gefährlich geworden
Seit dem Wiener Kongress hat sich etwas verändert. Früher, bis zum Zweiten Weltkrieg, gab es das sogenannte ius ad bellum, das Recht, Krieg zu führen. Ein Land konnte einem anderen Land den Krieg erklären, und das war kein Problem, da es gesetzlich festgelegt war. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es das ius ad bellum nicht mehr. Als das Führen von Kriegen noch politisch legal war, wurden Neutrale im Allgemeinen von allen Parteien gut aufgenommen.
Heute werden neutrale Staaten zunehmend in einen Sumpf von Debatten verwickelt, die sie dazu zwingen, für eine bestimmte Seite Partei zu ergreifen, was es immer schwieriger macht, sich aus Konflikten herauszuhalten. Nachdem der ehemalige US-Präsident Bush nach dem 11. September 2001 vor den Vereinten Nationen erklärt hatte: «Entweder seid ihr für uns oder gegen uns», durfte die Neutralität nicht mehr wie früher eine Option sein.
Die Schweizer Rüstungsindustrie ist stärker von Dual-Use-Produkten als von der Ukraine abhängig
Eines der Argumente der Befürworter einer Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes ist, dass dies die Schweizer Rüstungsindustrie stärken würde. In Wirklichkeit machten die Rüstungsverkäufe im letzten Jahr nur 0,25% der gesamten Schweizer Industrieexporte aus. Sie stiegen jedoch innerhalb eines Jahres um 39%, als Katar das wichtigste Ziel für Schweizer Waffenexporte war (Verkauf von Luftabwehrsystemen zur Sicherung der Fussballweltmeisterschaft), gefolgt von Dänemark, Deutschland, Saudi-Arabien und den USA. Auf Europa entfällt die Hälfte der Schweizer Militärexporte (481,6 Millionen Schweizer Franken).
Die militärischen Verkaufsstatistiken zeigen, dass militärische Dual-Use-Produkte nicht-tödlicher Natur, wie Helme, kugelsichere Westen und Minenräumgeräte für humanitäre Zwecke, eine noch wichtigere Rolle für die Schweizer Rüstungsindustrie spielen. Laut dem Basler Institut für Wirtschaftsintelligenz (BAK) beläuft sich der Gesamtwert der Schweizer Verteidigungsindustrie, einschliesslich der militärischen Dual-Use-Produkte, die jedes Jahr in der chweiz produziert werden, auf 2,3 Milliarden Schweizer Franken oder 0,32% des BIP und unterstützt 14 000 Arbeitsplätze im Land. Es wird geschätzt, dass für jeden Schweizer Franken, der in die Schweizer Rüstungsindustrie investiert wird, 66 Rappen in andere Industriesektoren fliessen.
Pflichten und Rechte von Neutralen nach dem Völkerrecht
Die Rede der Schweiz anlässlich ihrer Wahl in den UN-Sicherheitsrat ging offensichtlich an den völkerrechtlichen Rechten und Pflichten von Neutralen vorbei, wie sie von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Mitglied die Schweiz ist, definiert werden. 1975, mitten im Kalten Krieg, wurde in Helsinki ein Schlussabkommen unterzeichnet, das alle Grundsätze enthielt, die der Schweiz am Herzen liegen: die Achtung der Souveränität, der Verzicht auf Gewaltanwendung, die Wahrung der territorialen Integrität, das Eintreten für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten sowie das gleiche Recht der Völker auf Selbstbestimmung.
Ein weiterer internationaler Meilenstein für das Recht auf Neutralität ist das bis heute gültige Abkommen von 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Abkommen). Es besagt, dass neutrale Länder wie die Schweiz nicht an Kriegen teilnehmen oder Söldner entsenden dürfen, dass sie alle beteiligten Parteien gleich behandeln sollen, dass sie keinem Militärbündnis (wie der PfP) beitreten dürfen und dass sie ihr Territorium von ausländischen Truppen frei halten sollen.
Nach internationalem Recht kann die Schweiz nur mit einem klaren Mandat des UNO-Sicherheitsrats von ihrer Neutralitätspflicht befreit werden. Unabhängige Forscher stellen jedoch in Frage, ob die derzeitige Rolle der Vereinten Nationen mit den völkerrechtlichen Regeln für den Neutralitätsstatus vereinbar ist.
Die Änderung des Kriegsmaterialgesetzes würde gegen die Schweizer Verfassung verstossen
Die Neutralität, wie sie in der internationalen Gesetzgebung verstanden und formuliert wird, ist aufgrund des Kriegsmaterialgesetzes Teil des Schweizer Rechts. Daher können Waffen, die an ausländische Staaten geliefert werden, nicht ohne die Zustimmung der Schweizer Regierung transferiert werden. Wenn das Kriegsmaterialgesetz ignoriert oder sogar in seiner Bedeutung verwässert wird, könnte sich die Schweiz dabei wiederfinden, das Gleichgewicht der militärischen Kräfte in einem Krieg zu beeinflussen, was gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verstossen und somit ihre internationalen Neutralitätsverpflichtungen verletzen würde.
Die Bundesverfassung garantiert die dauerhafte Neutralität des Landes. Die Regierung und das Parlament sind verpflichtet, sie zu respektieren. Wer versucht, diese Tatsache zu ändern, muss dies dem Schweizer Volk und den Kantonen in einer Volksabstimmung unterbreiten, anstatt die Neutralität indirekt durch die Hintertür des Parlaments zu umgehen.
Es muss klar sein, dass der Ausgang des Ukraine-Krieges nicht nur mit der Sicherheit und Unabhängigkeit Europas, sondern auch und vor allem mit der Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz selbst verbunden ist. Aus diesem Grund ist dieser besondere Krieg zu einem wichtigen Prüfstein für die Schweizerische Neutralität geworden.
* Rémy Delalande arbeitet seit 20 Jahren als Politologe, zunächst als Journalist in Genf für eine Handelszeitschrift und später für den Dienst für auswärtige Angelegenheiten in Bern, wo er ein breites Spektrum internationaler und nationaler Regulierungsfragen bearbeitet hat. Rémy Delalande wirkte ausserdem Während 10 Jahren als gewählter Politiker in einem lokalen Parlament am Genfer See. In dieser Rolle konzentriert er sich auf Fragen der lokalen öffentlichen Politik und organisiert Expertenkonferenzen für Fachleute aus dem Bankensektor sowie für ausländische Delegationen zu öffentlichen Angelegenheiten und Regulierungen. (eventspro.ch) |