Die Schweiz – mit der Nato in den Krieg?

Unabhängigkeit und Neutralität (2)1

von Thomas Scherr*

(17. Mai 2024) Wie Mehltau hat sich ein neues Verständnis von Unabhängigkeit und Neutralität über die Schweizer Medienwelt verbreitet und wird nun in das Bewusstsein der Bevölkerung eingeträufelt. Selbst Politiker und Bundesräte sind inzwischen der irrigen Meinung, dass eine Annäherung an die Nato irgendwie mit der Neutralität des Landes zusammenpassen könnte. Ein äusserst fataler Irrtum.

Unmerklich und langsam gerät die Schweiz in eine Situation, die sich kaum jemand vorstellen konnte. Sie droht als Kleinstaat zu einem Zahnrädchen in einer riesigen Militärmaschinerie zu werden – von Neutralität und Selbständigkeit kann keine Rede mehr sein. Und dies obwohl im Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer der Wert der Neutralität bei Umfragen konstant auf dem ersten Platz liegt. Politiker beteuern wieder und wieder die Neutralität des Landes, während sie selbst tatenlos zusehen … oder selbst aktiv daran beteiligt sind, die Schweiz in eine brandgefährliche Situation zu steuern.

Deutschland bereitet sich auf einen Krieg vor …

Ausgerechnet in diesem Jahr kommt es zu einer Prüfung: Durch den Krieg in der Ukraine droht Europa, aktuell Ost-und Mitteleuropa, zur Kriegszone zu werden. Die Bereitschaft vieler europäischer Politiker, eigene Soldaten in die Ukraine zu schicken, aber auch die Ankündigungen Frankreichs und Deutschlands, die eigene Wirtschaft auf einen Krieg umzustellen, sowie die Lieferung der ATAMCS-Raketen aus den USA, sind mehr als deutliche Signale zu einer weiteren Eskalation. Offensichtlich soll die ukrainische Front um Soldaten inklusive Waffen direkt aus Nato-Staaten ergänzt werden. Damit wird die Nato direkt zur Kriegspartei …

Und genau in dieser Situation senden Schweizer Politiker Signale aus, die die Position der Schweiz als neutralen Staat weiter schwächen. Damit gefährden sie das Land und seine Bevölkerung.

… und der Bundesrat hantiert mit der Neutralität

So monieren Beobachter die gravierenden Fehlentscheidungen des Bundesrates und seiner Administration: Mit der Teilnahme an den völkerrechtswidrigen einseitigen Zwangsmassnahmen der EU gegen Russland (fälschlicherweise als «Sanktionen» bezeichnet) überschritt der Bundesrat im März 2022 eine rote Linie. Diese Massnahmen sind nicht von der UN legitimiert. Es wäre für den Bundesrat ein Leichtes gewesen, sich auf die weltweit anerkannte Schweizer Neutralität zu berufen. Doch man entschied sich in Bern gegen die Tradition des Landes – und den deutlichen Willen der Bevölkerung.

Dass dabei Genf aus der ersten Liga der internationalen Verhandlungsorte hinauskatapultiert wurde und dass der Bankenort Schweiz nicht mehr als politisch zuverlässig gilt, sind nur «Kollateralschäden» dieser vom Bundesrat und seiner Administration verfolgten neutralitätsfeindlichen Politik. Viel schwerer wiegt die offensichtliche Annäherung unserer Armee an die Nato und die EU und der damit einhergehende internationale Verlust im Ansehen der Schweizer Neutralität.

Bundesrätin Viola Amherd macht Schweiz zur Zielscheibe

Besonders hebt sich das Verteidigungsdepartement (VBS) mit seinem Kurs hervor. Es orderte das überteuerte, atomwaffentaugliche Mehrzweckkampfflugzeug F-35 bei Lockheed Martin in den USA. Amtsvorsteherin Viola Amherd wartete nicht die anstehende Volksabstimmung ab, sondern handelte wie von einer Geisterhand gelenkt. Dieser überteuerte Tarnkappenjet macht nur Sinn innerhalb von grossflächigen Nato-Militäroperationen. Für einen neutralen Kleinstaat wirkt der Kauf weder vertrauensbildend noch ist er militärisch sinnvoll.

Kurz darauf setzt Frau Amherd mit der Vereinbarung zu einem europäischen Raketenschutzschild gemeinsam mit zwölf Nato-Staaten noch eines obendrauf. Andere Lösungen wurden ausser Acht gelassen. Ein von der Schweiz mitfinanziertes Raketenschild wird die zukünftigen Kriegsteilnehmer der EU/Nato schützen, zu der die Schweiz nicht gehört. Neutralitätspolitisch, aber auch verteidigungspolitisch ist dieser Vertrag völliger Unsinn. Dadurch wird das Land erst recht selbst zur Zielscheibe.

Viele falsche Signale

Völlig unverständlich und geradezu peinlich bleibt die Rolle von Bundesrat Ignazio Cassis. Ohne die notwendigen diplomatischen Vorabsprachen mit Moskau – aber zu den Bedingungen des ukrainischen Präsidenten Zelensky – versuchte Cassis Russland zur Teilnahme an einer «Friedenskonferenz» in die Schweiz aufzufordern. Was zu erwarten war, trat ein: Russland bezeichnet diese Konferenz als eine Farce und sieht die Schweiz nicht mehr als neutral an. – Dazu sollte man sich in Erinnerung rufen, dass Russland seit über 200 Jahren ein Signatarstaat der Schweizer Neutralität ist.

Zum kontraproduktiven Verhalten des Bundesrates kommen inzwischen die vielen falschen Signale dazu, die die Schweiz über ihre offiziellen Vertreter aussendet. Alleine das Abstimmungsverhalten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zur «Navalny-Resolution» war völlig einseitig und widerspricht jeder vernünftigen Neutralitätspolitik.2

Die Forderung nach einem Austritt der Schweiz aus dem Europarat ist nicht so falsch wie sie in den Mainstream-Medien dargestellt wird. (Randnotiz: Interessanterweise ist ausgerechnet ein Schweizer, Alain Berset, als zukünftiger Generalsekretär des Europarats im Gespräch).

Chance selbst zu entscheiden

Es ist fünf vor zwölf und höchste Zeit für eine Kurskorrektur. Mit Neutralität ist es wie mit einer Schwangerschaft: ein bisschen geht nicht.

Angesichts der vorhersehbaren Ausweitung des Ukrainekrieges auf die europäischen Nato-Staaten sollte in der schweizerische Politiklandschaft ein Umdenken beginnen. Zurück zu einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik, so wie sie dem Land entspricht.

Die anstehenden Volksabstimmungen zur Neutralitäts- und zur Souveränitätsinitiative bieten den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihre Zukunft selbst zu bestimmen und an den Rahmen für eine eindeutige Neutralitätspolitik zu erinnern.3

Kleinstaat Schweiz unter Druck

Es wäre ein eigenes Kapitel zu analysieren, warum unser Land heute zu einem Anhängsel und Zahlmeister für die Nato zu werden droht. An dieser Stelle wird nur an zwei Punkte erinnert: In einer echten pluralen, demokratischen Medienlandschaft wären solche Fehlentwicklung kaum möglich gewesen. Die anstehenden Fragen wären breiter und kontroverser diskutiert worden. Damit ist die verhängnisvolle Rolle der Mainstream-Medien, inklusive SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) angesprochen.

Ein zweiter Punkt, der hier nur angedeutet werden kann, ist die Realpolitik. Es ist und war immer klar, dass eine Annäherung oder gar eine Anbindung an die Nato bedeutet, die Neutralität des Landes zu riskieren. In den 1990/2000er Jahren bzw. der Entstehung der unipolaren Weltordnung, konnte ein verstärkter Druck auf den Kleinstaat Schweiz wahrgenommen werden. Man denke an die Raubgolddebatte, die FACTA-Gesetze aber auch die vielen Pressionen aus der EU. Ohne den Druck von aussen und die persönlichen Eitelkeiten Einzelner wäre es kaum zu diesen Fehlentwicklungen gekommen. So haben die dafür zuständigen Stellen in der jetzigen Situation bisher zu spät und auch häufig falsch auf die geopolitische Grosswetterlage reagiert.

Schleichende Anbindung an die Nato

In Bezug auf die Nato-Anbindung bietet der Beitrag von Jean-Paul Vuilleumier, «Zur schweizerischen Neutralität. Gefährliche Verstrickung der Schweizer Armee mit der Nato», eine übersichtliche Chronologie.4

Der Autor zeichnet die verschiedenen Etappen der seit über drei Jahrzehnten andauernden schleichenden Anbindung an die Nato nach. Im Folgenden werden einige Eckpunkte aus dem Artikel in Erinnerung gerufen:

1996: Teilnahme an «Partnerschaft für den Frieden» (PfP)

  • «Entwickeln militärischer Kooperationsbeziehungen mit der Nato»;
  • «Aufbau von Streitkräften, die besser gemeinsam mit den Nato-Streitkräften operieren können».

1997: Teilnahme am «Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat» (EAPR)

Drei Bedingungen hat der Bundesrat mit der Unterzeichnung des EAPR zugestimmt:

  • Verpflichtung zur Teilnahme an vier jährlichen Nato-Treffen auf Ministerebene;
  • Verpflichtung, unter dem Präsidium des Nato-Generalsekretärs zu tagen;
  • Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Nato bei der «Bekämpfung des internationalen Terrorismus».

1999: Revision der Bundesverfassung

Die neue Verfassung schwächt das «Milizprinzip», beschneidet die Kompetenzen der Kantone, nimmt dem Parlament ein Teil seiner Befugnisse, und beseitigt damit wichtige Hindernisse, die einer Annäherung an die Nato entgegenstanden.

1999: Die Nato verwandelt sich in ein «Angriffsbündnis»

Am 24. März 1999 lösen die Nato-Streitkräfte – ohne Mandat der UNO und damit völkerrechtswidrig – den ersten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Er wird in Washington geplant und von dort ausgeführt. Während 78 Tagen werden täglich zivile Infrastrukturen Serbiens von Nato-Flugzeugen bombardiert.

Einen Monat nach Kriegsbeginn, am 24. April 1999, verabschieden die Regierungsvertreter der Nato-Staaten in Washington ein neues «Strategisches Konzept», mit welchem sie das seit 1949 bestehende sogenannte Verteidigungsbündnis in ein «Angriffsbündnis» umwandeln.

2001: Revision des Militärgesetzes

Trotz der völkerrechtswidrigen Aggression der Nato-Kriegsallianz gegen ein europäisches Land legt der Bundesrat 2001 dem Parlament eine Revision des Militärgesetzes vor, um die Bewaffnung der Schweizer Truppen im Ausland und die militärische Zusammenarbeit mit den Nato-Staaten zu ermöglichen.

2003: «Armee XXI»

  • Massive Verkleinerung und Verjüngung der Truppen;
  • Reduktion und Auflösung ganzer Truppengattungen;
  • Aufhebung der bisherigen Korps, Divisionen und Regimenter und Ersatz durch die Nato-Kategorien «Bataillone» und «Brigaden»;
  • Aufhebung der Mitsprache des Volkes in grundlegenden Armeefragen.

2010: «Weiterentwicklung der Armee» (WEA)

Die Weiterentwicklung der Armee (WEA) ist nach der Armee 95 und der Armee XXI eine weitere Reorganisation der Schweizer Armee.

Am 6. Juni 2023 stellt der Verband Militärischer Gesellschaften Schweiz (VMG) dazu ernüchternd fest, dass die WEA in ihren zentralen Kernbereichen der vollständigen Ausrüstung und der personellen Alimentierung ihre Ziele bei Weitem nicht erreicht hat. Der Schlussbericht wird deshalb als mangelhaft und enttäuschend bezeichnet.

In den letzten 30 Jahren wurde der Armeebestand um 75 Prozent reduziert, von rund 400 000 auf 100 000.

2022: «Partnerships 360 Symposium»

Im 2022 fand das dritte «Nato-Partnerschaftssymposium» auf Schweizer Boden im «Maison de la Paix» (sic) in Genf statt. Es war das erste Mal, dass ein solches Treffen in einem Partnerland und nicht in einem Mitgliedsland der Nato durchgeführt wurde.

2022: «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021»

2022 publizierte der Bundesrat einen «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine». In diesem 37-seitigen Dokument ist ständig von «Kooperation» und «Zusammenarbeit» die Rede – allerdings einzig mit der Nato und der EU.

2023: Teilnahme an «Sky Shields Initiative» – ein Nato-Projekt

Im Juli 2023 fand auf Einladung von Bundesrätin Viola Amherd in Bern ein D-A-CH-Treffen der Verteidigungsminister und -ministerinnen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands statt. – Nun, im Mai 2024 sind die Verträge von der Schweiz und 12 Nato-Staaten bereits unterschrieben.

Das Fazit Vuilleumiers lautet:

«Das oben beschriebene Vorgehen des Bundesrates hat über die letzten Jahrzehnte zu einer deutlichen Schwächung der schweizerischen Souveränität und Neutralität geführt. Unser Land ist damit zu einem einfachen Opfer für politische und wirtschaftliche Erpressungen geworden. Die Verstrickung der Schweizer Armee mit der Nato ist eine 180°-Wende in der bisherigen Neutralitäts- und Friedenspolitik, die zu Sicherheit und Stabilität unseres Landes auch in stürmischen Zeiten viel beigetragen hat.

Es ist entscheidend, zu einer glaubhaften und verlässlichen Neutralitätspolitik zurückzufinden und die eigenen Ressourcen nicht mehr für ‹fremde Händel›, sondern für die Unabhängigkeit unseres Landes einzusetzen.»

Dem ist nichts hinzuzufügen.

* Thomas Scherr arbeitet als unabhängiger Autor für den «Schweizer Standpunkt».

1 https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/unabhaengigkeit-und-neutralitaet.html

2 Marianne Binder-Keller und Pierre-Alain Fridez haben als Vertreter der Schweiz in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 17. April 2024 der Resolution Doc. 15966 zugestimmt. (siehe https://pace.coe.int/en/votes/39716).

3 https://swiss-standpoint.ch/news-detailansicht-de-schweiz/aufruf-von-linken-und-gruenen-ja-zur-neutralitaetsinitiative.html

4 Jean-Paul Vuilleumier. «Schweizer Standpunkt», 28. Juli 2023. https://swiss-standpoint.ch/news-detailansicht-de-schweiz/gefaehrliche-verstrickung-der-schweizer-armee-mit-der-nato-2.html

Zurück