Zur schweizerischen Neutralität
Herr Zelensky mit Videobotschaft in der Bundesversammlung während der Sommersession
von Suzette Sandoz,* Lausanne
(16. Mai 2023) Diese Nachricht, die Gegenstand einer Pressemitteilung vom 5. Mai 2023 ist und vom Westschweizer Fernsehen RTS im Abendjournal erwähnt wurde, macht stutzig und verdient eine offene Diskussion. Sie scheint jedoch fast unbemerkt geblieben zu sein.
Der Entscheidungsprozess
In der Pressemitteilung heisst es: «Die ukrainische Botschaft in der Schweiz hat der Bundesversammlung ein offizielles Gesuch für eine Videoansprache Präsident Zelenskys vor dem Schweizer Parlament übermittelt. Der Entscheid zu diesem Gesuch obliegt den Büros von National-und Ständerat. Diese haben an ihrer heutigen Sitzung beschlossen, der Anfrage Folge zu leisten. Die Videoansprache soll während der Sommersession stattfinden. Das genaue Datum wird in Absprache mit der Ukraine festgelegt. […]»
Einige heikle Fragen
- Es ist völlig normal, dass das Parlament entscheidet, wer sich ausser seinen Mitgliedern und dem Bundesrat offiziell an das Parlament wenden darf. Aber muss es, um die Stellungnahme eines Staatsoberhauptes zu genehmigen, diese nicht zuvor mit dem Bundesrat besprechen?
- Wenn dieser Staatschef das Oberhaupt eines kriegsführenden Staates ist, was unweigerlich die Neutralitätsfrage aufwirft, haben wir es dann nicht mit einem echten aussenpolitischen und diplomatischen Problem zu tun, das in erster Linie in die Zuständigkeit des Bundesrates und nicht des Parlaments fällt? Was ist die Meinung des Bundesrates zu diesem Thema?
- Wird das Parlament nicht gerade in der Sommersession über das Kriegsmaterialgesetz und insbesondere über das Problem der Wiederausfuhr von Schweizer Waffen und Munition diskutieren? Ich habe die Liste der parlamentarischen Geschäfte für die Sommersession noch nicht gefunden, aber wenn dies der Fall ist, wäre es natürlich unzulässig, dass Herr Zelensky gerade zu diesem Thema und im Hinblick auf die parlamentarischen Debatten interveniert.
Schlussfolgerung
Die Entscheidung der beiden Büros des National- und des Ständerates, ein direkt interessiertes Staatsoberhaupt zu ihren Debatten einzuladen, ist äusserst beunruhigend und eine öffentliche Diskussion oder zumindest eine Erklärung des Bundesrates zu diesem Thema wäre willkommen.
* Suzette Sandoz ist 1942 geboren. Sie ist Honorarprofessorin für Familien- und Erbrecht, ehemalige Abgeordnete des Grossen Rates des Kantons Waadt und ehemalige Nationalrätin. |
Quelle: https://blogs.letemps.ch/suzette-sandoz/2023/05/07/m-zelensky-en-video-a-lassemblee-federale-lors-de-la-session-dete, 7. Mai 2023
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)