EFTA
Im Land der Maharadschas wird Lilliput zum Goliath
von Christian Campiche,* Lausanne
Wir gehen davon aus, dass dieses Thema in den Medien, mit Ausnahme des Mediendienstes des Bundes, kaum grosse Schlagzeilen hervorrufen wird. Das wäre aber ungerecht, denn das angekündigte Abkommen mit Indien ist für die Schweizer Wirtschaft eine gute Nachricht. Die Schweizer Vertreter der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) haben 16 Jahre lang hartnäckig verhandelt, bis sich ihr ausdauernder Einsatz schliesslich ausgezahlt hat. «Ein bedeutender Meilenstein der schweizerischen Handelspolitik», kommentiert das Eidgenössische Departement für Wirtschaft (WBF).
Die Hochburg von Guy Parmelin bricht nicht grundlos in Hurra-Rufe aus. Seine Zufriedenheit ist aufrichtig. Sie hat vor allem das Verdienst, realistisch zu sein, zu einem Zeitpunkt, an dem die Schweiz ihre Beziehungen zu ihrem grossen europäischen Nachbarn hinterfragt. Seit dem berühmten «Schwarzen Sonntag» von 1992 ähneln die Beziehungen der Schweiz zur EU einem Blindekuh-Spiel.
Die Ablehnung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) durch die Deutschschweiz zerstörte damals alle Hoffnungen auf eine Annäherung an Brüssel. Die bilateralen Abkommen, die immer wieder neu aufgelegt wurden, stagnieren. Die nächste Runde wird noch vor Ostern entschieden. «Die letzte Schlacht von Ignazio Cassis», titelt der «Blick». Die Tageszeitung zeigt sich vordergründig optimistisch, doch nichts deutet darauf hin, dass der Aussenminister diese Schlacht gewinnen wird. Man kann davon ausgehen, dass die SVP und die Gewerkschaften, die sich für diesen Anlass zu einer heiligen Allianz zusammengeschlossen haben, seine schönen Ambitionen durchkreuzen werden.
Das Schriftstück mit den Unterschriften der Minister der EFTA und Indiens sollte jedoch Cassis’ Ängste und die diejenigen der rechts- und linksliberalen Parlamentsmitglieder, deren Augen grösser als ihr Bauch sind, relativieren. Diese Gruppierungen zeigen sich in der Frage der Bilateralen, die sie um jeden Preis zum Abschluss bringen möchten, ziemlich entfesselt. Mit ihnen zusammen werden einige Kleingeister wahrscheinlich einwenden, dass die EFTA eine Notlösung ist, der Schatten einer Organisation, die, nachdem sie die Crème de la Crème der Nationen des alten Kontinents vereint hatte, auf vier Mitglieder – die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein – geschrumpft ist.
Dabei lägen sie allerdings falsch. Mit dreimal so vielen Einwohnern wie die Europäische Union ist Indien der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt zwar in bitterer Armut, aber Indien ist dennoch eine treibende Kraft. Mit einem BIP-Wachstum von 7% ist Indien ein ernsthafter Anwärter auf den Platz der drittgrössten Wirtschaftsmacht der Welt hinter den USA und China.
«Der Schweiz und den anderen EFTA-Staaten ist es gelungen, als erster europäischer Partner ein Freihandelsabkommen (FHA) mit Indien abzuschliessen.» Dieser kleine Satz in der Pressemitteilung sagt viel über den Erfolg aus, den die Schweizer Verhandlungsführer erzielt haben. Ein Ergebnis, das den Schweizer Maschinenbauern, die in den letzten Monaten durch die Rezession in Deutschland stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, Auftrieb verleiht. In der Tat wertet die Senkung oder gar Abschaffung der Zölle die «Swisstech» im Wettbewerb mit den chinesischen und westlichen Giganten auf.
Dass es Lilliput gelungen ist, Goliath den Rang abzulaufen – und dies im Land der Maharadschas – ist eine erwähnenswerte Leistung.
* Christian Campiche, geboren 1948, ist ein Schweizer Schriftsteller, Journalist und Musiker. Er ist Gründer, Direktor und Chefredakteur von infoméduse, einer Schweizer Online-Zeitung für Information und Reflexion. Christian Campiche ist Autor mehrerer Essays und historischer Romane. Er ist ehemaliger Präsident von impressum, der grössten Journalistenorganisation der Schweiz, und setzt sich für die berufliche und ethische Interessenvertretung von Journalisten ein. |
Quelle: https://www.infomeduse.ch/2024/03/10/au-pays-des-maharadjahs-ce-lilliput-est-goliath/, 10. März 2024