Unabhängigkeit und Neutralität

Die Schweiz im EU-Nebel

von Thomas Scherr*

(26. April 2024) Wie ein Mehltau legt sich ein neues Verständnis von Unabhängigkeit und Neutralität über die Schweizer Medienwelt und verbreitet sich damit in der Bevölkerung. Im Folgenden soll dieser Mehltau mit einer Prise Fakten und Logik aufgelöst werden.

Viele sind inzwischen der Meinung, man müsse in den Verhandlungen mit der EU, Brüssel entgegenkommen. Auch die irrige Meinung, dass einseitige Zwangsmassnahmen gegen Russland irgendwie mit der Neutralität zusammenpassen würden, findet Anklang in den Medien. Wie kommt es zu diesem schleichenden Meinungswechsel und was bedeutet er?

Im folgenden Beitrag soll es zuerst «nur» um die EU gehen. Über sie erfährt man fast nur noch Positives aus unseren Medien. Hat sich Brüssel gebessert? Für die Schweizer Medien und die «classe politique» scheint Brüssel inzwischen zu einer ehrlichen Referenzgrösse geworden zu sein, mit der man anbändeln kann und auf «Augenhöhe verhandeln» könne. Doch mit wem verhandelt der Bundesrat seit geraumer Zeit über eine Neugestaltung der Beziehungen? Wer ist Brüssel?

Rein äusserlich ist die EU ein Staatenbündnis, mit dem unerklärten Ziel zu einem grossen europäischen Staat zusammenzuwachsen. Die EU ist nicht demokratisch. Sie funktioniert «top-down». Weder kommen die Gesetzesvorlagen von den Bürgerinnen und Bürgern, noch können sie Entscheidungen irgendwie beeinflussen. Wer also Verträge mit der EU macht, der verhandelt nicht mit einem demokratischen Gegenüber, sondern mit einer Funktionärselite, die nicht einer Bevölkerung verpflichtet ist.

80 Prozent aller Gesetze aus der EU

Etwa 80 Prozent der Gesetze und Verordnungen in den einzelnen Staaten der EU werden nicht mehr im eigenen Land, sondern in Brüssel entschieden. Theoretisch blieben dann noch 20 Prozent, die im eigenen Land gefällt werden könnten. Diese Gesetze dürfen jedoch keinem EU-Gesetz oder keiner EU-Verordnung widersprechen. Es gibt Tausende von Gesetzestexten und Zehntausende von Verordnungen – häufig nur auf Englisch… Bei Konflikten zwischen der EU und einem Mitgliedsstaat entscheidet dann letztinstanzlich der Europäische Gerichtshof (EuGH). Dessen Richter sind ernannt – aber nicht auf demokratischem Wege. So fallen ihre Entscheidungen tendenziell zugunsten der EU aus. Durchgesetzt werden die Entscheidungen des EuGHs schlussendlich über den Geldhahn (vgl. mit Polen der Streit über das Presserecht oder mit Ungarn über das Familiengesetz) oder über Sanktionen, so wie gegen Österreich im Jahre 2000.

Das EU-Parlament – eine Demokratie-Fassade

Auch wenn es ein EU-«Parlament» gibt und es dort auch einige glaubhafte, ja sogar engagierte Parlamentarier gibt, so bleibt dieses Parlament seit 1958 doch nur eine Fassade, besetzt von Abgeordneten, die von Lobbyisten gefüttert und oft auch geführt werden. Die von der EU-Kommission vorgeschlagenen und vom EU-Parlament dann abgesegneten Gesetze betreffen dann aber alle Bürgerinnen und Bürger in ihrer direkten Lebenswelt von Helsinki bis nach Athen.

In jedem Gesetz und jeder Verordnung liegen Vorteile für einzelne Lobby- bzw. Wirtschaftsbranchen. Sie werden, je nachdem wie die Gesetze und Verordnungen ausfallen, bevorzugt oder benachteiligt. Dabei geht es oft um mehrstellige Milliardensummen. Wer kann Einfluss auf einzelne Kommissionsmitglieder, Abgeordnete oder leitende Angestellte gewinnen und den Gang der Entscheidung beeinflussen? Unter der Hand werden enorme Geldsummen und Vergünstigungen von Dritten verteilt.1 An wirksamen Kontrollen mangelt es seit Jahrzehnten. Versprochen wurde viel, passiert ist wenig.

Den Brüsseler Entscheiden ausgeliefert

Die EU kennt keine demokratischen Entscheidungsprozesse, die von den Bürgerinnen und Bürgern ausgehen. Das «Parlament» setzt keine direkten Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger über Sachfragen um, so wie es in der Schweiz über die Initiativ- und Referendumsrechte möglich ist. Die Menschen in der EU sind den Brüsseler Entscheiden ausgeliefert.2 – Das ist etwas armselig für ein Gebilde, das in unseren Mainstreammedien so positiv «demokratisch» daherkommt.

Zu dem undemokratischen Aufbau der EU passt, dass die EU-Kommission über Jahrzehnte mit verschiedenen, immer wieder neuen Korruptionsskandalen beschäftigt ist. Das ist im öffentlichen Bewusstsein kaum noch bekannt. Nicht die Korruptionsanfälligkeit der EU-Kommission ist weniger geworden – nur die Berichterstattung darüber ist seltener.

Gegen die EU-Präsidentin wird ermittelt

Aktuell beschäftigen sich Ermittlungsbehörden mit einem Vertragsabschluss zwischen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Pharma-Konzern Pfizer über Covid-Impfdosen in Höhe von 20 Milliarden Euro. Der belgische Lobbyist Frédéric Baldan hat am 5. April 2023 bei einer belgischen Behörde Strafanzeige gegen von der Leyen, wegen «Anmassung von Funktionen und Titeln», «Vernichtung öffentlicher Dokumente», «illegalem Interessenerwerb und Korruption» erstattet. Ungarn und Polen schlossen sich der Klage an.3

Inzwischen sind auch Ermittler der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) tätig geworden.4 Es ist nicht das erste Mal, dass von der Leyen eigenmächtig gehandelt hat. Noch heute beschäftigen sich deutsche Justizbehörden mit ihren Vertragsabschlüssen als Bundesministerin für Verteidigung,5 (2013–2019), die sie ebenfalls per Handy6 abgeschlossen hatte. Und, es ist eine eigene Geschichte, wie von der Leyen zu ihren Posten als EU-Kommissionspräsidentin gekommen ist.7 Sie ist nicht das erste und einzige Mitglied der EU-Kommission, das mit grösseren Unregelmässigkeiten zu tun hat.

Die EU ein seriöser Vertragspartner?

Das lässt die Frage zu, ob die EU ein seriöser Vertragspartner ist, mit dem man sich gerne näher einlässt und dem man auch in Streitfällen die letzte richterliche Entscheidung zugestehen möchte – auch über genuine schweizerische Anliegen?

Warum werden in den Mainstreammedien die Vorteile der Schweiz klein geredet, während die EU zu einem geradezu «sympathischen» Gegenüber mutiert? Im Vergleich zur Situation der Bürgerinnen und Bürger in den EU-Staaten sind die politischen und rechtlichen Verhältnisse in der Schweiz geradezu paradiesisch: Dazu gehören unter anderem die kurzen Wege, die direkt-demokratischen Entscheide, die föderativen Strukturen, ein gepflegter Mittelstand, die politischen Rechte der Bevölkerung und die Unabhängigkeit des Landes.

Wie kommt es also zu dieser schleichenden Annäherung an die EU? Schielen einige Vertreter der classe politique auf lukrative Posten in Brüssel und Strassburg? Möchte man dort gefallen? Fliesst Geld, winken Posten in der Privatwirtschaft? Oder wird der egoistische Druck aus der inzwischen internationalisierten Schweizer Wirtschaft und Finanz so gross, dass Gedanken über Selbstbestimmung und Demokratie keinen Platz mehr in den Verhandlungen mit Brüssel finden? Mehr Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte täte gut. Ein offener Blick auf den Verhandlungspartner könnte uns vor grossen Enttäuschungen bewahren.

1 Korruptionsfälle sind an der Tagesordnung. Vgl. dazu das verharmlosende Wikipedia: «Abgeordnete werden oft durch Lobbyorganisationen mit Gratisangeboten «angefüttert». Laut Analysen des österreichischen Europaabgeordneten Hans-Peter Martin kann der Gegenwert von durch Lobbyisten erteilte Angebote wie Reisen, Abendessen oder Cocktailempfänge pro Woche bis zu 10 000 € erreichen.» https://de.wikipedia.org/wiki/Lobbyismus#cite_note-84
vgl. Einer der letzten grösseren Skandale ist die Korruptionsaffäre um die EU-Parlament-Vize-Präsidentin Eva Kaili und weitere EU-Parlamentsabgeordnete. https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/verdacht-auf-korruption-im-eu-parlament?urn=urn:srf:video:c662871c-d867-46a9-883b-070376a3fcff

2 Man denke nur an die Volksabstimmungen über die EU-Verfassung 2005. Sie wurde in Frankreich und den Niederlanden durch das Volk abgelehnt. Der leicht geänderte Inhalt wurde dann 2009 als «Vertrag von Lissabon» ohne Volksabstimmung durchgewunken.

3 Vgl. https://www.voltairenet.org/article220679.html, 2. April 2024

4 Vgl. https://tkp.at/2024/04/03/pfizer-gate-erstmals-direkte-ermittlungen-gegen-von-der-leyen/, 4. April 2024

5 U. von der Leyen verwickelte die Bundeswehr in einen Sumpf von Beratertätigkeiten, in der sie auch ihr engeres familiäres Umfeld einsetzte. Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/ursula-von-der-leyen-untersuchungsausschuss-berateraffaere-bundeswehr?utm_referrer=https%3A%2F%2Fmetager.de%2F, 13. Februar 2020)

6 Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/handy-von-der-leyen-101.html, 13. Januar 2020

7 Wie es um die EU bestellt ist, konnte man 2019 an der Wahl der EU-Präsidentin Ursula von der Leyen verfolgen. Sie wurde kurzfristig auf den Wunsch von Emmanuel Macron zur Präsidentin gewählt. Dadurch entschlüpfte sie den Problemen, die sie als deutsche Bundesverteidigungsministerin hatte. Eigentlich war der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber vorgesehen. Macron intervenierte, Weber trat «freiwillig» zurück.

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