Abrüstung zugunsten von Entwicklung
von Alfred de Zayas,* Genf
«In den Sitzungen der Regierungsmitglieder müssen wir uns davor hüten, dass der militärisch-industrielle Komplex ungerechtfertigten Einfluss erlangt, sei er nun gewollt oder ungewollt. Das Potenzial für den verhängnisvollen Aufstieg einer fehlgeleiteten Macht besteht und wird fortbestehen. Wir dürfen niemals zulassen, dass das Gewicht dieser Kombination unsere Freiheiten oder demokratischen Prozesse gefährdet.»
Dwight D. Eisenhower, 17. Januar 19611
(25. April 2022) Red. Der Autor ist sowohl US-amerikanischer als auch Schweizer Staatsbürger. Hier äussert er sich zu wirtschaftspolitischen Fragen betreffend der USA.
AdZ. Unsere Regierungen haben die falschen Prioritäten – völlig verdrehte Haushaltsprioritäten. Jahr für Jahr werden unsere Steuergelder vom Kongress vergeudet, der statt Budgets für die menschliche Sicherheit Budgets für das Militär beschliesst.
Wie ich in meinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat2 aus dem Jahr 2014 dokumentiert habe, fliessen rund 40 Prozent unseres Haushalts in das Militär – Billionen von Dollar für Kriege, Militärinterventionen, Militärpropaganda, Raketen, Drohnen, Militärbasen im In- und Ausland, Militärübungen und was sonst noch? Und das wissen wir aus veröffentlichten Dokumenten. Wir wissen auch, dass Milliarden nicht verbucht sind. Wo sind all die fehlenden Milliarden geblieben?
Wenn wir ein wirklich demokratisches Land wären, würde man uns fragen, ob wir den Haushalt für Krieg oder für Bildung ausgeben wollen, ob wir Abrüstung und Friedensverhandlungen den Vorrang vor dem Wettrüsten geben wollen. Wir hätten die Möglichkeit, über bestimmte Aspekte des Haushalts abzustimmen. Wir würden uns nicht auf unser System der so genannten «repräsentativen Demokratie» verlassen, die uns in Wirklichkeit nicht repräsentiert.
In Wirklichkeit haben wir eine «dysfunktionale» Demokratie, die uns nur erlaubt, für Kandidat A oder Kandidat B zu stimmen, die beide dem militärisch-industriellen Komplex verpflichtet sind, die beide riesige Militärbudgets wollen, die beide Säbelrasseln und militärische Abenteuer dem Dialog vorziehen, Spannungen statt Entspannung, Raubtierkonkurrenz statt internationalen Zusammenarbeit.
In einer Welt, die von Pandemien, Klimawandel, Erdbeben, Tsunamis und anderen Naturkatastrophen bedroht ist, ist es an der Zeit, internationale Solidarität zu üben, um globale Probleme zu lösen. Unsere Regierungen sollten damit beginnen, die Souveränität anderer Staaten zu respektieren, sich nicht in deren internationale Angelegenheiten einzumischen, wie es in den Resolutionen 2131, 2625 und 3314 der Generalversammlung festgelegt ist.
Sie sollen Provokationen einstellen, die Kriegstrommeln zum Schweigen bringen, das enorm kostspielige Wettrüsten beenden und Artikel 2 Absatz 3 der UN-Charta beachten, der alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihre Differenzen auf dem Verhandlungsweg, mit friedlichen Mitteln und in gutem Glauben zu lösen.
Obwohl die meisten Politiker in Ost und West, Nord und Süd Lippenbekenntnisse zur Bedeutung des lokalen, regionalen und internationalen Friedens abgeben, untergraben sie den Frieden in Wirklichkeit täglich. Obwohl sie sich angeblich verpflichten, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu erreichen, gibt es keinerlei vernünftige Aussichten, diese zu verwirklichen, da die Militärbudgets nicht schrumpfen, sondern wachsen und die Kriegspropaganda exponentiell zugenommen hat.
Wo auch immer wir in den Medien hinschauen – in der «Qualitätspresse», in Hollywood, in den Fernsehnachrichten, in den Internetnachrichten, in den sozialen Medien –, alle scheinen sich mit Fake News zu beschäftigen, mit verzerrten Darstellungen und mit der Glaubwürdigkeit von Operationen unter falscher Flagge.
Die Rücksichtslosigkeit eines solchen Verhaltens könnte schliesslich zu einer Fehleinschätzung eines hochrangigen Politikers führen – ein Computerfehler, ein verhängnisvoller menschlicher Irrtum –, der zu einer nuklearen Konfrontation mit Russland, China oder anderen Atommächten führen wird.
Anstatt die Militärbudgets zu kürzen, um Covid-19 und andere Pandemien zu bekämpfen, beobachten wir die Rücksichtslosigkeit von Regierungen, die Krankenhäuser privatisieren und Kliniken schliessen, weil sie nicht genug Profit abwerfen.
Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht, und die Regierungen sind ontologisch verpflichtet, geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern. Was wir in den letzten Jahrzehnten gesehen haben, ist Vernachlässigung und Unvorbereitetheit. Das ist der Grund, warum die USA über eine Million Todesfälle durch Covid-19 zu beklagen haben.
Unsere Reaktion auf die Pandemie zeigt die Abwärtsspirale der Forschung zur Vorbereitung auf Notfälle. In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts haben viele Länder ihre Investitionen in das Gesundheits- und Bildungswesen, in soziale Dienste und in die Infrastruktur reduziert, während sie das Geld der Steuerzahler für die Entwicklung und Beschaffung von Kampfjets und tödlichen autonomen Waffensystemen verschwendet haben.
Die Lobbys des militärisch-industriellen Komplexes schüren weltweit Kriege, weil sie nur dann Gewinne machen können, wenn die Waffen eingesetzt und zerstört werden, was wiederum die Notwendigkeit auslöst, sie zu ersetzen. So setzt sich der Teufelskreis fort. Waffen produzieren, Spannungen erhöhen, bewaffnete Konflikte provozieren, die Waffen im echten Krieg in die Luft jagen, neue Waffen produzieren, Profit machen.
In Artikel 2 Absatz 4 der UNO-Charta heisst es, dass die Staaten in ihren internationalen Beziehungen nicht nur auf die tatsächliche Anwendung von Gewalt verzichten, sondern auch auf die Androhung von Gewalt.
Konkretisiert wird der völkerrechtliche Grundsatz in Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der insbesondere die Propaganda für den Krieg verbietet. Artikel 20, Absatz 2, verbietet ausdrücklich die Aufstachelung zu Hass und Gewalt. Wie sonst könnte man die Russophobie und Sinophobie vieler unserer Politiker beschreiben?
Ungeachtet dieser Normen lassen sich viele «Leaders» und politische «Experten» in den USA und den NATO-Ländern auf hetzerische Provokationen und «Militärübungen» an den Grenzen von Staaten ein, in denen wir gerne einen «Regimewechsel» sehen würden. Besonders gefährlich ist, dass diese Provokationen von politischen Kommentatoren und den Mainstream-Medien, die es eigentlich besser wissen müssten, beklatscht und aufgebauscht werden.
Ausgehend von der Forderung der UN-Charta, die nachfolgenden Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren, steht die Zivilgesellschaft an der Spitze der Bewegung zur Kodifizierung des Friedens als Menschenrecht mit klar definierten individuellen und kollektiven Dimensionen.
Diese Initiative wurde in der Erklärung von Santiago vom 10. Dezember 2010 verankert, die zu einem Entwurf für eine Erklärung über das Recht auf Frieden durch den Beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats führte, ein Dokument, das einen ganzheitlichen Ansatz zum Frieden manifestiert und bürgerliche, kulturelle, wirtschaftliche, politische und soziale Rechte umfasst.
In meiner Eigenschaft als unabhängiger UN-Experte für internationale Ordnung habe ich an allen Beratungen der zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe zum Recht auf Frieden teilgenommen. Das war eine schmerzhafte und aufschlussreiche Erfahrung.
Jeder, der wissen will, welche Länder wirklich für die Menschenwürde und die Menschenrechte sind und welche dagegen, hätte als Beobachter an diesen schändlichen Sitzungen teilnehmen sollen, bei denen die Vertreter der USA und der NATO-Länder rundheraus leugneten, dass es so etwas wie ein Menschenrecht auf Frieden gibt. Schlimmer noch, sie argumentierten, dass es ein solches Recht nicht geben sollte. Ihre Argumente waren nicht nur rechtlich falsch – sie waren auch moralisch verwerflich.
Die abgeschwächte Resolution, die schliesslich am 19. Dezember 2016 von der Generalversammlung3 verabschiedet wurde, ist jedoch noch nicht das Ende der Geschichte. Die Zivilgesellschaft wird nicht aufgeben, und die Spanische Gesellschaft für internationales Menschenrecht, die die Deklaration von Santiago initiiert hat, setzt ihre Aufklärungsarbeit fort, um eine Mehrheit der Staaten von der Dringlichkeit der Anerkennung des Friedens als grundlegendes Menschenrecht zu überzeugen.
Die Staaten müssen auf die Zivilgesellschaft hören und die von der Generalversammlung in ihrer Resolution 39/11 vom 12. November 1984, die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verabschiedet wurde, bereits geleistete Arbeit zu Ende führen.4
Der erneute Kalte Krieg und der heisse Krieg in der Ukraine legen nahe, dass eine Generalversammlung das Thema erneut aufgreifen und eine neue Resolution verabschieden muss, die alle konstitutiven Elemente des Rechts auf Frieden bekräftigt, was umso dringlicher ist.
Am dringendsten ist es heute, dass die Staaten gemeinsam an der Beseitigung der Ursachen lokaler, regionaler und internationaler Konflikte arbeiten, die oft aus der mangelnden Repräsentativität der Regierungen, der grossen Kluft zwischen Macht und Bevölkerung, den grossen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in der Welt, dem Wettlauf um natürliche Ressourcen, den Asymmetrien in den Handelsbeziehungen, der Verhängung illegaler Sanktionen und Finanzblockaden gegen andere Staaten und der kriminellen Manipulation der öffentlichen Meinung durch Regierungen und Medien entstehen.
In den vergangenen siebzig Jahren hatten viele bewaffnete Konflikte und mehrere völkermörderische Kriege ihren Ursprung in der Verweigerung des Rechts auf interne oder externe Selbstbestimmung.
Es gibt immer noch viele indigene Völker, nicht selbstverwaltete Völker, Völker, die unter Besatzung leben, Völker, die grobe Menschenrechtsverletzungen erlitten haben, die einen legitimen Anspruch auf Selbstbestimmung haben – darunter die Palästinenser, die Tamilen Sri Lankas, die Sahraouis, die Mapuches, die West-Papuaner, die Katalanen, die Korsen, die Armenier von Berg-Karabach, die Südtiroler und, ja, auch die viel geschmähten Völker von Abchasien, Südossetien, der Krim, Donezk und Lugansk.
Es ist höchste Zeit, dass die Vereinten Nationen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts als Strategie zur Konfliktverhütung proaktiv fördern, was eine Vermittlung und gegebenenfalls von den Vereinten Nationen organisierte und überwachte Volksabstimmungen erfordert. Es ist nicht das Selbstbestimmungsrecht, das Konflikte verursacht, sondern die ungerechte Verweigerung desselben.
Unzählige Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg wurden gerade durch die Unnachgiebigkeit von Politikern ausgelöst, durch ihren Mangel an Flexibilität, durch ihr Beharren auf dem überholten Prinzip des uti possidetis.
Die Bewältigung globaler Probleme, einschliesslich der Herausforderungen der Ziele für nachhaltige Entwicklung, erfordert Billionen von Dollar. Es ist daher zwingend erforderlich, die Militärausgaben drastisch zu senken und die Kriegswirtschaft in eine Friedenswirtschaft umzuwandeln und dadurch Millionen von Arbeitsplätzen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales zu schaffen.
Es ist unverantwortlich, das Wettrüsten fortzusetzen, wenn Millionen von Menschen weltweit unter extremer Armut, Hunger und fehlendem Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen leiden.
Abrüstung zugunsten von Entwicklung muss unser Mantra sein. Die Nuklearstaaten müssen auch in gutem Glauben Abrüstungsverhandlungen führen, wie in Artikel 6 des Atomwaffensperrvertrags gefordert. Die Gefahr der nuklearen Vernichtung wird so lange bestehen, wie die Produktion und Lagerung von Atomwaffen nicht beseitigt wird.
Diese Besorgnis war Gegenstand zweier allgemeiner Kommentare, die der UN-Menschenrechtsausschuss zu Artikel 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, dem Recht auf Leben, angenommen hat. Es sollte jedem klar sein, dass wir ohne Frieden unsere Menschenrechte nicht wahrnehmen können. Lassen Sie uns mit einer Warnung von Präsident Eisenhower schliessen:
«Jedes Geschütz, das gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, jede Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nicht ernährt werden, an denen, die frieren und nicht gekleidet werden.»5
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/04/15/disarmament-for-development/, 15. April 2022
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 https://avalon.law.yale.edu/20th_century/eisenhower001.asp
2 A/HRC/27/51. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G14/087/31/PDF/G1408731.pdf?OpenElement
3 https://static.un.org/en/ga/71/resolutions.shtml
4 https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/declaration-right-peoples-peace
5 Eisenhower, Die Rede zum Wandel für den Frieden, http://www.edchange.org/multicultural/speeches/ike_chance_for_peace.html