«Der Billionen-Dollar-Schalldämpfer»

Jeremy Kuzmarov. (Bild zvg)

Warum es in den USA so wenig Antikriegsproteste gibt

von Jeremy Kuzmarov,* USA

(29. Januar 2023) Das tiefe Eindringen des Militärs in alle Aspekte des amerikanischen Lebens hat die Entwicklung einer starken Anti-Kriegs-Bewegung behindert – und das zu einer Zeit, in der sie dringend gebraucht wird.

Zehntausende von Demonstranten sind in den letzten Jahren überall in den USA auf die Strasse gegangen, um die Brutalität der Polizei anzuprangern, sich gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Einschränkung des Abtreibungsrechts zu wehren und die ihrer Meinung nach gefälschten Wahlen anzufechten (Unruhen beim Kapitol von Januar 2021).

Im Vergleich dazu sind nur kleine, hartgesottene Gruppen auf die Strasse gegangen, um gegen die Rekord-Militärbudgets – die sich unter Joe Biden einer Billion Dollar nähern – oder gegen die illegale Bombardierung Syriens, die Aufstockung von US-Truppen in Afrika, die Bereitstellung von 20 Milliarden Dollar1 an US-Militärhilfe für die Ukraine und die militärischen Provokationen gegen China zu protestieren.

Roelofs, Joan. [Der Billionen-Dollar-Schalldämpfer:
Warum es in den USA so wenig Anti-Kriegs-Proteste gibt]
Atlanta: Clarity Press 2022. ISBN 978-1949762587

Joan Roelofs2 neues Buch «The Trillion Dollar Silencer: Why There Is So Little Anti-War Protest in the United States» beginnt mit einer wichtigen Frage:

«Warum gibt es so viel Akzeptanz und so wenig Protest gegen die illegalen und unmoralischen Kriege und anderen militärischen Operationen unserer Regierung?» Die Antwort der Autorin ist einfach und überzeugend: Wegen des Geldes.

Erfolgreiche Propaganda, Angst und Ablenkung sind zwar wichtig, aber der militärisch-industrielle Komplex, vor dem Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 gewarnt hat, ist so tief in das amerikanische Leben eingedrungen, dass sich ein Grossteil der amerikanischen Öffentlichkeit im Grunde genommen damit abgefunden hat.

Joan Roelofs schreibt, dass «der wirtschaftliche Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes ein höchst effektiver Schalldämpfer ist.»

Die Militärbasen werden zum Lebensnerv der wirtschaftlichen Entwicklung

Besonders wichtig ist die Tatsache, dass Militärbasen strategisch über die USA verteilt sind, oft in abgelegenen ländlichen Gebieten, wo sie zum Lebensnerv der wirtschaftlichen Entwicklung werden.

Millionen amerikanischer Arbeitnehmer finden Arbeit bei Militärunternehmen oder deren Tochtergesellschaften, die Stipendien und Praktika für College-Studenten finanzieren, die nichts von den Anti-Vietnamkrieg-Protesten wissen, die einst ihre Universitäten erschütterten.

Roelofs zufolge zeigt sich der Triumph des militärischen Keynesianismus in den USA daran, dass die Militärausgaben die Hälfte des Haushalts der Bundesregierung ausmachen.

Diese Art von Ausgaben habe einen grossen Einfluss auf die Wirtschaft, weil sie a) rezessionssicher sind, b) in verarmten und strukturschwachen Gebieten des Landes einen Segen darstellen, c) nicht von den Launen der Verbraucher abhängen und d) einen enormen Multiplikatoreffekt haben:

Auftragnehmer, Subunternehmer und die Ausgaben der Angestellten sowie Militärbasen und -einrichtungen sind die wirtschaftlichen Drehscheiben ihrer Region, sie schaffen Kunden für Immobilienmakler, Landschaftsgärtner, Restaurants, Möbelgeschäfte, Museen und Yoga-Studios, während die erhöhten Steuereinnahmen soziale Dienste, Bildung, Infrastruktur und Kultur unterstützen.

Viele Angehörige der Mittelschicht profitieren von den Aktien der Waffenhersteller in ihren Fondsportfolios. In Roelofs' Heimatstaat New Hampshire unterstützt das F-35-Jagdbomber-Programm 55 Zulieferer – 35 davon sind kleine Unternehmen – und mehr als 900 direkte Arbeitsplätze, viele davon bei BAE Systems in Nashua, das vom Money Magazine zweimal als «bester Ort zum Leben in den USA» bezeichnet wurde.

Laut Business Review generiert das F-35-Programm «über 481 Millionen Dollar an wirtschaftlichem Einfluss im Bundesstaat».

Im Mai 2022 eröffnete BAE Systems – Hersteller der Panzerhaubitze M777,3 einer äusserst «tödlichen Waffe», die zur Beschiessung des Donbass in der Ostukraine eingesetzt wurde – ein neues Werk in Manchester, dessen Schwerpunkt auf der Entwicklung elektronischer Kriegsführung lag und in dem Hunderte von Mitarbeitern beschäftigt werden sollten.

Mit den höheren Einnahmen wird BAE Systems in der Lage sein, seine jährlichen Wohltätigkeitsspenden in Höhe von mehr als einer Million Euro zu erhöhen,4 die zur Finanzierung von MINT-Bildungsprogrammen (Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik) für Kinder in diesem Bundesstaat beigetragen haben.

Sich in der Öffentlichkeit beliebt machen

Die Militärindustrie setzt sich immer durch massive Wahlkampfspenden an Politiker beider grosser Parteien und umfangreiche Lobbyarbeit durch. Die Kongressabgeordneten sind sich der Vorteile für ihre Bezirke sehr wohl bewusst und halten oft Aktien der Waffenindustrie.

Die Industrie poliert ihr Image durch umfangreiche philanthropische Bemühungen und die Unterstützung zahlreicher gesellschaftlicher Einrichtungen, insbesondere solcher, die der Jugend und Minderheiten zu Gute kommen. Dazu gehören auch die Pfadfinder.

Das Militär sponsert ausserdem Videospiele, Sportveranstaltungen, Paraden und Filme, die den Militarismus verherrlichen und normalisieren. Joan Roelofs schreibt, dass «extrem gut finanzierte Rekrutierungsbemühungen in Schulen ‹lustige Simulationen› der Kriegsführung beinhalten».

Militärisch-industriell-akademischer Komplex

Seit den 1960er Jahren hat die Militärindustrie auf den Campus der Universitäten enormen Einfluss genommen, indem sie nationale Sicherheitsinstitute und Schulen für Wirtschaft, Ingenieurwesen und sogar Sozialarbeit subventioniert und Zuschüsse für Forschung und Finanzierung gewährt, um die nächste Generation von Waffenproduzenten auszubilden.

Das Human Terrain System-Programm im Jahr 2007 erinnerte an das Projekt Camelot der US-Armee aus der Zeit des Kalten Krieges, bei dem Sozialwissenschaftler eingesetzt wurden, um im Irak und in Afghanistan anthropologische und ethnografische Daten zur Unterstützung der Aufstandsbekämpfung zu erheben.

Die Präsidenten grosser Universitäten haben zunehmend einen militärischen oder CIA-Hintergrund.5 So war beispielsweise der ehemalige Verteidigungsminister und CIA-Direktor Robert Gates Präsident der Texas A&M University, während Admiral William McRaven, der das auf Attentate spezialisierte Joint Special Operations Command (JSOC) leitete, Kanzler der University of Texas war.

Während sich die Lehrkräfte früher schämten, zuzugeben, dass sie Forschungsmittel von einer militärischen Einrichtung erhielten, gaben jetzt nur noch 12 Prozent an, dass sie sich in irgendeiner Weise stigmatisiert fühlen würden. Und selbst an vermeintlich liberalen Hochschulen und Universitäten haben Professoren wegen ihrer Ablehnung der US-Aussenpolitik ihre Stelle verloren.

Aufstieg und Fall der Anti-Kriegs-Bewegungen

Joan Roelofs zufolge war das Militär zwar schon immer Teil der amerikanischen Kultur, doch im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine respektable pazifistische Gegenkultur, die zum Teil durch die Kraft des aufklärerischen Denkens und des radikalen Christentums angetrieben wurde.

Henry David Thoreau wurde berühmt, weil er sich weigerte, während des mexikanisch-amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848 seine Steuern zu zahlen – was auch von dem jungen Abraham Lincoln entschieden abgelehnt wurde.6

Eine scharfe Wende trat während des Ersten Weltkriegs ein, als Pazifisten in einer von der Regierung orchestrierten Propagandakampagne dämonisiert und ins Gefängnis gesteckt wurden.

In der Folge wurden Kriegsgegner wie Aussenminister Frank Kellogg, der 1928 den Kellogg-Briand-Pakt zum Verbot des Krieges förderte, spöttisch als «Isolationisten» bezeichnet.

In den 1930er Jahren entwickelte sich das America First Committee zur grössten Antikriegsbewegung in der Geschichte der USA, löste sich jedoch unmittelbar nach Pearl Harbor auf, und es gab nur wenige oder gar keine Proteste gegen die Brandbombenangriffe auf Dresden und Tokio, den Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki oder den Korea-Krieg.

Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg führten dazu, dass die Universitäten sowie viele Industriezweige und zivile Einrichtungen eine Partnerschaft mit dem aufkeimenden kriegführenden Staat eingingen. Eines der wichtigsten Programme des New Deal, die Tennessee Valley Authority (TVA), wurde durch das Aufstauen der Flüsse in der Nähe der Oak Ridge National Laboratories in Ost-Tennessee zu einem wichtigen Faktor für die Produktion von Atomwaffen im grossen Stil.

Angesichts der tief verwurzelten Mentalität des Kalten Krieges entwickelten sich nur langsam Proteste gegen den Vietnam-Krieg, und der Antikriegsprotest in den späten 1960er Jahren erwies sich als kurzlebig. Die Regierung schaffte die Wehrpflicht ab und fand neue Wege, um den Krieg mit einem begrenzten amerikanischen Fussabdruck zu führen – so dass die Söhne und Töchter der Mittelschicht nie kämpfen mussten.

Die anfänglichen Proteste gegen den Irak-Krieg hielten nicht an, und es folgten keine gross angelegten Mobilisierungen gegen militärische Interventionen in Afghanistan, Libyen, Syrien und jetzt in der Ukraine, wo der Öffentlichkeit eingeredet wurde, dass Russland der Aggressor sei.

William D. Hartung, Fellow am nicht-interventionistischen Quincey Institute for Responsible Statecraft, schrieb, dass «die militärischen Auftragnehmer [heute] hoch im Kurs stehen, und die Ukraine liefert ihnen nur ein weiteres Argument, warum es immer weiter aufwärts gehen muss.»7

Kooptation der Linken in den 1960er Jahren

Joan Roelofs hebt hervor, wie im Gefolge der Protestbewegung der 1960er Jahre Unternehmensstiftungen begannen, aggressiver Gruppen zu finanzieren, die für gesellschaftliche Reformen eintraten, ohne das US-Imperium oder den Kapitalismus zu bedrohen.

Ein 1969 in der Zeitschrift Ramparts erschienenes Exposé von David Horowitz deckte auf, dass die CIA mindestens 46 Stiftungen benutzte, um Geld an Organisationen zu leiten, deren Hauptzweck darin bestand, Antikriegsproteste zu entschärfen und die politische Linke in den USA zu spalten.

Die National Endowment for Democracy (NED) wurde in den 1980er Jahren gegründet, um Regimewechsel-Propaganda zu fördern, die die Unterdrückung von Minderheiten in Ländern, die eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Aussenpolitik verfolgten, in den Vordergrund stellte.

Damit verbunden war die Förderung von Überwachungsorganisationen, die Menschenrechtsverletzungen als «Abweichungen» darstellten, die von schlechten Menschen begangen wurden, ohne dass eine Verbindung zu ausländischen Konzernen oder der militärischen Ausbildung oder den imperialen Plänen der USA bestand.

Ein Schlüsseleffekt war die Kanalisierung aktivistischer Energien, insbesondere von Jugendlichen, in pro-interventionistische Gruppen wie Free Tibet und Save Darfur, die zu der Zeit, als der Krieg gegen den Terror und die damit verbundenen Gräueltaten ausgeweitet wurden, an den Universitäten stark vertreten waren.

Kriegsgewinnler wie Bechtel, die massive Aufträge zum Bau von US-Militärstützpunkten im Ausland erhalten haben, sind immer geschickter darin geworden, ihre eigenen Stiftungen zu gründen, die den Antikriegsprotest entschärfen und die politische Linke neutralisieren sollen. Die von ihnen unterstützten Organisationen mögen zwar auch Gutes tun, haben aber die Bemühungen aufgegeben, die Umweltzerstörung und die Krise des öffentlichen Bildungswesens mit den aufgeblähten Militärausgaben in Verbindung zu bringen – und sie stellen die vorherrschende politisch-wirtschaftliche Ordnung nie in Frage.

Joan Roelofs zufolge machte sich «Corporate America» [das Amerika der Konzerne] zusätzlich die Bewegung der Neuen Linken der 1960er Jahre zunutze, die für eine grundlegende Neuausrichtung der US-Aussenpolitik eintrat, indem sie für die Einstellung von mehr Minderheiten warb und die Beteiligung von Frauen im Militär und bei Militärfirmen als Triumph der feministischen Bewegung darstellte.

Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) –, die grauenhafte neue Waffensysteme herstellt, die direkt aus Science-Fiction-Romanen stammen – hat unterdessen ein falsches humanitäres Image geschaffen, indem sie die Entwicklung wissenschaftlicher Lösungen zur Unterstützung verwundeter Veteranen hervorhob, unter anderem durch die Herstellung von hochmodernen Prothesen.

Unter den Folgen leiden

Während der militärische Keynesianismus die Wirtschaft ankurbelt, zerstört die übermässige Abhängigkeit von Militärausgaben die USA langsam nicht nur geistig, sondern auch wirtschaftlich, und zwar in einem ganzheitlichen Sinne.

In einem 1989 erschienenen Band der Annals of the American Academy of Political and Social Science, der dem Thema «Die Universitäten und das Militär» gewidmet ist, schrieb die MIT-Physikprofessorin Vera Kistiakowsky, eine der herausragenden Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts, dass «die Finanzierung der universitären Forschung durch das Pentagon keine Vorteile bringt. Die bevorzugte Finanzierung von Waffen hat negative wirtschaftliche Folgen, wie unsere sich verschlechternde zivile industrielle Infrastruktur, unsere negative Handelsbilanz und unser wachsendes Defizit zeigen. Wir haben nicht in einem Umfang in die zivile Forschung investiert, der diesen drängenden Problemen angemessen wäre, und wir werden weiterhin unter den Folgen leiden, bis wir dies tun.»

Diese Äusserungen erscheinen im Jahr 2023 noch prophetischer und treffender. Der Billionen-Dollar-Schalldämpfer könnte seine Wirkung verlieren, wenn sich die von Kistiakowsky beschriebenen Probleme weiter verschärfen.

* Jeremy Kuzmarov ist leitender Redakteur des CovertAction Magazine. Er ist Autor von vier Büchern zur US-Aussenpolitik, darunter «Obama's Unending Wars» (Clarity Press, 2019) und «The Russians Are Coming, Again», mit John Marciano (Monthly Review Press, 2018). Er ist zu erreichen unter jkuzmarov2@gmail.com

Quelle: https://covertactionmagazine.com/2023/01/06/the-trillion-dollar-silencer/?mc_cid=ff0f624537, 6. Januar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://thehill.com/policy/defense/overnights/3769314-defense-national-security-us-military-aid-to-ukraine-hits-20-billion

2 Joan Roelofs ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft am Keene State College in New Hampshire.

3 https://covertactionmagazine.com/2022/06/27/while-biden-gives-ukrainian-army-the-most-lethal-weapon-war-profiteer-bae-systems-stock-soars/

4 https://www.baesystems.com/en-us/article/billion-dollar-impact-on-2018-new-hampshire-economy

5 https://covertactionmagazine.com/2021/08/23/cam-back-to-school-special-major-midwest-university-hires-former-under-secretary-of-defense-and-under-secretary-of-the-army-as-president/

6 https://library.brown.edu/create/modernlatinamerica/chapters/chapter-14-the-united-states-and-latin-america/primary-documents-w-accompanying-discussion-questions/abraham-lincoln-on-the-mexican-american-war-1846-48

7 Zitiert in Eric Lipton, Michael Crowley und John Ismay, Bonanza For Arms Makers As Military Budget Surges, «The New York Times», 18. Dezember 2022

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