US-Sanktionen gegen Russland führen zu einer weltweiten Nahrungsmittelkatastrophe
von John Ross*
(20. Juni 2022) «Es gibt keine wirkliche Lösung für das Problem der globalen Ernährungssicherheit, ohne die landwirtschaftliche Produktion der Ukraine und die Lebensmittel- und Düngemittelproduktion Russlands und Weissrusslands trotz des Krieges auf die Weltmärkte zurückzubringen.» Diese unverblümten Worte1 des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres, beschreiben treffend die gegenwärtige globale Nahrungsmittelkrise.
Da die USA und die G7 (bestehend aus Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, dem Vereinigten Königreich und den USA) darauf beharren, dass der Abbruch der Lebensmittelexporte aus der Ukraine die grösste Bedrohung für die weltweite Ernährungssicherheit darstellt, anstatt die weitaus stärkeren negativen Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland zuzugeben, fügt ihre Propaganda dem Verständnis der Weltöffentlichkeit und ihrer Fähigkeit, eine drohende globale Nahrungsmittelkatastrophe zu verhindern, immensen Schaden zu.
Welternährung – katastrophale Situation
Wenn man sich die Situation der Welternährung ansieht, sehen viele Experten die unmittelbare Gefahr einer «menschlichen Katastrophe», wie es Weltbank-Präsident David Malpass ausdrückte.2 Andrew Bailey, der Gouverneur der Bank of England, bezeichnete seinen Ausblick auf die weltweiten Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung als «apokalyptisch», als er über die steigenden Nahrungsmittelpreise sprach.3
Dieser Anstieg hat dazu geführt, dass sich zwei Probleme gleichzeitig entfalten: die Gefahr von Hunger und Hungersnöten in Teilen des globalen Südens und die Beeinträchtigung des Lebensstandards in allen Ländern der Welt.
Schon vor dem rapiden Preisanstieg im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg litten mehr als 800 Millionen Menschen unter chronischer Ernährungsunsicherheit – rund 10 Prozent der Weltbevölkerung. US-Finanzministerin Janet Yellen führte diese Tatsache an, als sie im April 2022 zu den Teilnehmern einer Veranstaltung4 mit dem Titel «Tackling Food Insecurity: The Challenge and Call to Action» [Die Herausforderung und der Aufruf zum Handeln], an der auch die Leiter internationaler Finanzinstitutionen wie Malpass von der Weltbank teilnahmen.
Yellen merkte ausserdem an: «Frühe Schätzungen deuten darauf hin, dass in Afrika südlich der Sahara mindestens 10 Millionen Menschen mehr in die Armut gedrängt werden könnten, allein aufgrund der höheren Lebensmittelpreise.»
Das Welternährungsprogramm (WFP) plant,5 «in diesem Jahr eine Rekordzahl von 140 Millionen Menschen zu ernähren», und es berichtet,6 dass «mindestens 44 Millionen Menschen in 38 Ländern am Rande einer Hungersnot stehen», ein Anstieg gegenüber 27 Millionen im Jahr 2019.
In Ländern, die mit anderen Problemen wie dem Klimawandel konfrontiert sind, ist der Anstieg der Lebensmittelpreise katastrophal.
Im Libanon beispielsweise «stiegen die Kosten für einen Grundnahrungsmittelkorb – den monatlichen Mindestnahrungsmittelbedarf einer Familie – im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 um 351 Prozent», so das WFP.7
Im Globalen Norden droht keine Hungersnot, aber die Bevölkerung dieser Länder sieht sich mit einem starken Druck auf ihren Lebensstandard konfrontiert, da die globale Nahrungsmittelkrise auch die Preise erhöht, die die Menschen in den wohlhabenden Ländern zahlen und einplanen müssen.
In den USA beispielsweise führte die Kombination aus hoher Inflation und Konjunkturabschwächung im vergangenen Jahr zu einem Rückgang des realen durchschnittlichen Wochenverdienstes um 3,4 Prozent, wie aus den Daten des US-Arbeitsministeriums hervorgeht.8
Gefälschte Analyse der G7
Angesichts dieser rasch wachsenden Bedrohung durch die sich verschärfende Nahrungsmittelkrise trafen sich die G7-Aussenminister vom 12. bis 14. Mai, um endlich ihre Aufmerksamkeit auf dieses dringende Problem zu richten.
Sie gaben am 13. Mai eine Erklärung ab,9 in der sie ihre «tiefe Besorgnis» über die wachsende Ernährungsunsicherheit zum Ausdruck brachten, und wiesen am nächsten Tag darauf hin,10 dass «die Welt jetzt mit einer sich verschlimmernden Ernährungsunsicherheit und Unterernährung konfrontiert ist […] zu einer Zeit, in der 43 Millionen Menschen bereits einen Schritt von einer Hungersnot entfernt waren».
Die G7 behaupteten jedoch fälschlicherweise, dass der Grund für diese Nahrungsmittelkrise in erster Linie darin liege, dass «Russland die Abfuhrwege für das ukrainische Getreide blockiert». Kanadas Aussenministerin Mélanie Joly erklärte:11 «Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Getreide in die Welt geschickt wird. Andernfalls droht Millionen von Menschen eine Hungersnot.»
Sanktionen gegen Russland sind Ursache
In dieser G7-Erklärung wurde die gegenwärtige weltweite Nahrungsmittelkrise bewusst falsch dargestellt. Anstatt zu versuchen, diese Krise zu lösen, nutzten die USA und der Rest der G7 diese Gelegenheit, um ihre Propaganda für den Ukraine-Krieg voranzutreiben.
Sicherlich verschlimmern die Exportbeschränkungen der Ukraine das weltweite Nahrungsmittelproblem. Aber sie sind nicht die Hauptursache für die Verschlechterung der Lage. Eine viel stärkere Ursache sind die westlichen Sanktionen gegen die russischen Exporte.
Der erste Grund dafür ist, dass Russland im Vergleich zur Ukraine ein weitaus grösserer Exporteur von Grundnahrungsmitteln und anderen Produkten ist. Russland ist der grösste Weizenexporteur der Welt12 und hat einen fast dreimal so hohen Anteil an den weltweiten Ausfuhren wie die Ukraine, nämlich 18 Prozent im Vergleich zu 7 Prozent.
Zweitens, und das ist noch wichtiger, ist die Situation bei den Düngemitteln. Russland ist der weltweit grösste Exporteur von Düngemitteln, und Weissrussland, das ebenfalls mit westlichen Sanktionen konfrontiert ist, ist ebenfalls ein wichtiger Lieferant – zusammen machen sie mehr als 20 Prozent des weltweiten Angebots aus.13
Die Düngemittelpreise stiegen bereits vor dem Ukraine-Krieg aufgrund der hohen Treibstoffpreise – die Düngemittelproduktion ist in hohem Masse von Erdgas abhängig –, aber die Sanktionen des Westens, die Russland an der Ausfuhr von Düngemitteln hindern, haben die Situation noch verschärft.
David Laborde, Senior Research Fellow am International Food Policy Research Institute, wies darauf hin,14 dass «die grösste Bedrohung für das Lebensmittelsystem die Störung des Düngemittelhandels ist». Der Grund dafür ist, so Laborde: «Weizen wird einige wenige Länder betreffen. Das Düngemittelproblem kann jeden Landwirt überall auf der Welt betreffen und zu einem Rückgang der Produktion aller Lebensmittel führen, nicht nur von Weizen.»
Die Bedrohung der weltweiten Düngemittelversorgung verdeutlicht, wie wichtig Energieprodukte für praktisch alle Wirtschaftszweige sind. Da Russland nicht nur einer der weltweit grössten Exporteure von Nahrungsmitteln, sondern auch von Energie ist, haben die Sanktionen gegen das Land eine inflationäre Wirkung auf die gesamte Weltwirtschaft.
Reaktion im globalen Süden
Die weltweite Versorgungslage mit Nahrungsmitteln verschlechterte sich nach dem G7-Treffen weiter, als Indien, der zweitgrösste Weizenproduzent der Welt, am 14. Mai ankündigte,15 seine Weizenexporte aufgrund von Ernteverlusten infolge einer intensiven Hitzewelle einzustellen.
Bereits im April hatte Indonesien angekündigt,16 die Ausfuhr von Palmöl einzustellen – auf Indonesien entfallen 60 Prozent des weltweiten Angebots.
Indiens Stopp der Weizenexporte wird ein weiterer schwerer Schlag für die Länder des Globalen Südens sein, auf die sich die Exporte hauptsächlich konzentrieren. Im Zeitraum 2021–2022 exportierte Indien 7 Millionen Tonnen Weizen, vor allem in Länder des Globalen Südens wie Sri Lanka, Indonesien, Jemen, Nepal, Malaysia, die Philippinen und Bangladesch. Indien hatte sich jedoch zuvor das Ziel gesetzt, die Weizenexporte in den Jahren 2022–2023 auf 10 Millionen Tonnen zu steigern, einschliesslich der ersten Lieferung von 3 Millionen Tonnen Weizen nach Ägypten.
Die Entwicklung der Situation macht deutlich, dass António Guterres' Worte tatsächlich zutreffend waren – die Welternährungskrise kann nicht ohne die Exporte der Ukraine und Russlands an Nahrungsmitteln und Düngemitteln gelöst werden. Ohne letztere steht die Menschheit in der Tat vor einer «Katastrophe» – Milliarden von Menschen werden ihren Lebensstandard senken müssen, und Hunderte von Millionen Menschen im Globalen Süden werden grosse Not wie Hunger oder Schlimmeres erleiden.
Fast alle Länder des Globalen Südens haben sich zu Recht geweigert, die einseitigen US-Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. Diese Weigerung muss auf die ganze Welt ausgedehnt werden, um weitere Verheerungen zu verhindern.
* John Ross ist Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China. Seine Artikel über die chinesische und US-amerikanische Wirtschaft und Geopolitik wurden vielfach im Internet veröffentlicht, und er ist Autor zweier in China erschienener Bücher, «Don't Misunderstand China's Economy» und «The Great Chess Game». Sein jüngstes Buch ist «China's Great Road: Lessons for Marxist Theory and Socialist Practices» (1804 Books, 2021). Zuvor war er Direktor für Wirtschaftspolitik beim Bürgermeister von London. |
Quelle: https://consortiumnews.com/2022/05/26/g7-downplays-us-sanctions-role-in-food-shortage/, 26. Mai 2022 (Dieser Artikel stammt von Peoples Dispatch.)
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
2 https://www.bbc.com/news/business-61171529
3 https://www.bbc.com/news/business-61469532
4 https://home.treasury.gov/news/press-releases/jy0721
6 https://www.wfp.org/stories/needs-all-time-high-even-war-ukraine-food-crises-report-says
7 https://www.wfp.org/stories/lebanon-war-ukraine-means-price-rises-amid-climate-crisis
8 https://www.bls.gov/news.release/realer.nr0.htm
13 https://news.un.org/pages/wp-content/uploads/2022/04/UN-GCRG-Brief-1.pdf
15 https://www.nytimes.com/2022/05/14/world/asia/india-wheat-export-ban.html