Eine neue Gesundheitsordnung für die Welt

Alfred de Zayas (Bild zvg)

Postcovidscher Gesellschaftsvertrag versus «The Great Reset»

von Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Genfer Schule der Diplomatie

(Januar 2021)  Viele Politikwissenschaftler, Ökonomen, Juristen, Historiker, Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft sind zur Erkenntnis gelangt, dass die Welt nach Corona nicht einfach nur «weitermachen sollte, wo wir aufgehört hatten», sondern einen neuen Gesellschaftsvertrag benötigt, der bessere Haushaltsprioritäten setzt, Menschen über Profite stellt und konkrete Massnahmen zur Förderung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit ergreift. Die internationale Solidarität und die Notfallvorsorge müssen gestärkt werden, um den globalen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Die Weiterführung des «business as usual» ist keine Option. Die Krise, unter der wir leiden, und das erbärmliche Missmanagement in zahlreichen Länder sind das direkte Ergebnis einer gescheiterten neoliberalen Politik, die überdacht und korrigiert werden muss, wenn der Planet überleben soll.

Neue Prioritäten notwendig

Was sollten die neuen Prioritäten sein? Sicherlich muss die Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestärkt und erweitert werden. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften müssen neu bewertet werden, und es sollte ein überarbeiteter Vertrag mit Bestimmungen für eine schnellere und effektivere internationale Zusammenarbeit verabschiedet werden. Der Schwerpunkt muss auf der Prävention und Behandlung von Krankheiten und Ansteckungen, der Frühwarnung und der Erleichterung des Informationsaustauschs liegen. Nicht nur die WHO, sondern alle nationalen und regionalen Gesundheitsbehörden müssen Zeit und Ressourcen darauf verwenden, Heilmittel für aktuelle und zukünftige Viren, HIV/AIDS, Krebs, Herzkrankheiten, Emphyseme, Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose, Malaria und Tuberkulose zu finden. Wir haben die moralische Verpflichtung, uns um die Ausrottung aller Krankheiten zu bemühen und nicht nur derjenigen, die das Potenzial zur internationalen Ausbreitung haben. Wir brauchen viel mehr als nur «Pflästerlipolitik» und palliative Massnahmen, die nur den momentanen Schmerz lindern. Wir brauchen gut finanzierte Institutionen, die – wie Gesundheits-«Think Tanks» – zukünftige Krisen vorhersehen. Da die Weltbevölkerung, insbesondere in Europa, Japan und Australien, immer älter wird, sind wir es unseren Eltern und Grosseltern schuldig, uns mit allen Problemen auseinanderzusetzen, die mit dem Altern einhergehen. Der Planet ist reich und üppig – und ältere Menschen sollten nicht von der Gesellschaft ausrangiert werden, sondern die letzten Jahre des irdischen Lebens in Würde geniessen.

Weltkonferenz zum Thema «Post-Covid Recovery»

In diesem Sinne sollte der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Weltkonferenz zum Thema «Post-Covid Recovery» [Erholung nach Covid] einberufen, mit der Aufgabe, einen Aktionsplan auszuarbeiten, eine Weltagenda, die auf Multilateralismus und Koordination durch alle UN- und Regionalorganisationen basiert, mit breiter Beteiligung von zwischenstaatlichen Organisationen, wie IOM und South Centre, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, Nichtregierungsorganisationen, Universitäten und der Zivilgesellschaft. Es ist an der Zeit, dass António Guterres sich mit Beratern aus allen Disziplinen, darunter die Ökonomen Jeffrey Sachs, Joseph Stiglitz und Thomas Piketty, berät und den Staats- und Regierungschefs der Welt konkrete Vorschläge unterbreitet, wie die Gesundheitsstandards weltweit am besten angehoben werden können und wie der Weltfrieden am besten gestärkt werden kann, indem die Finanzinstitutionen, der Welthandel und die Katastrophenhilfe in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der UN-Charta und unter Berücksichtigung der Resolutionen 2625 [freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Anm. d. Red.] und 3314 [Definition der Aggression, Anm. d. Red.] der Generalversammlung reformiert werden.

Finanz- und Wirtschaftssystem radikal überdenken

Die Covid-19-Pandemie kann ein «game-changer» sein, eine historische Gelegenheit, das vorherrschende Finanz- und Wirtschaftssystem radikal zu überdenken, das durch seine Boom-and-Bust-Zyklen, die weit verbreitete Arbeitslosigkeit und die nachweislich ungerechte Verteilung des Reichtums gekennzeichnet ist, wodurch die Gesellschaften nur unzureichend auf den Umgang mit Krisen wie Pandemien, Wirbelstürmen, Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüchen und natürlich den Folgen der globalen Erwärmung vorbereitet sind.1

Ein neuer Gesellschaftsvertrag bedeutet einen Paradigmenwechsel in den vorherrschenden Wirtschafts-, Handels- und Sozialmodellen. Die Regierungen tragen die Verantwortung für ihre unklugen und ungerechten Haushaltszuweisungen, die Militärausgaben Vorrang vor Investitionen in Gesundheit, Bildung und menschenzentrierte Infrastrukturen geben. Angesichts der Covid-Pandemie sollte jedes Land sofort die militärischen und nicht lebensnotwendigen Ausgaben reduzieren und sich dringend auf die Lösung der Probleme und Komplikationen konzentrieren, die die Pandemie begleiten.

Prioritäten in Wirtschaft und Handel neu ordnen

Dies ist ein günstiger Moment für die Mitglieder der Vereinten Nationen, um die Globalisierung zu zähmen, die zwar viel Gutes gebracht hat, aber auch von extremer Armut und endemischer sozialer Ungerechtigkeit begleitet wurde. Es ist an der Zeit, die überholten Bretton-Woods-Institutionen2 zu reformieren und die Prioritäten in Wirtschaft und Handel neu zu ordnen, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erreichen und dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker und ihrem Recht auf Entwicklung praktische Bedeutung zu verleihen.

In diesem Zusammenhang muss eine Weltkonferenz über «Post-Covid Recovery» mit einem Mandat zur Wiederbelebung des Multilateralismus die angemessene Finanzierung aller UN-Organisationen sicherstellen und Mechanismen zur Verbesserung ihrer Koordination und Effizienz einrichten. Aber die Konferenz muss, wenn sie einen Mehrwert haben soll, über kosmetische Anpassungen und eine oberflächliche Rückkehr zum kaputten Status quo ante hinausgehen. Die Konferenz muss eine umfassende Notfallvorsorge fördern, auch im Hinblick auf koordinierte Massnahmen zur Bewältigung neu auftretender globaler Gefahren, wie zum Beispiel möglicher Asteroideneinschläge.

Vorerst geht es nicht darum, die Charta nach Artikel 108 [Vorgaben für das Inkrafttreten von Änderungen der Charta, Anm. d. Red.] zu ändern, sondern die Konferenz sollte ein Versprechen abgeben, eine Erklärung in gutem Glauben, in der die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen als beste Hoffnung der Menschheit bekräftigt werden und die Verpflichtung eingegangen wird, die UN-Charta als eine Art Weltverfassung3 anzuwenden, wobei die Urteile und Gutachten des Internationalen Gerichtshofs als massgebliche Aussagen eines Weltverfassungsgerichts respektiert werden. Dies würde die schrittweise Übernahme der Bestimmungen der UN-Charta in die innerstaatliche Gesetzgebung der UN-Mitgliedstaaten nach sich ziehen.

Weg von Wettrüsten, Krieg, Militärbasen …

Eine Weltkonferenz könnte die vier Freiheiten von Franklin Delano Roosevelt wieder aufgreifen, die Spiritualität der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederentdecken, das Vermächtnis von Eleanor Roosevelt, René Cassin, Charles Malik, P.C. Chang und John Humphrey wiederbeleben. Der Paradigmenwechsel erfordert eine Änderung der nationalen Haushaltsprioritäten, weg von Wettrüsten, Krieg, Militärbasen, Beschaffung von Drohnen und Raketen. Was dringend notwendig und machbar ist, ist eine allmähliche und schrittweise Umwandlung von Budgets, bei denen die Armee im Vordergrund steht, in Budgets, die der menschlichen Sicherheit dienen.

Das neue Mantra: «Abrüstung für Entwicklung»

Das neue Mantra sollte «Abrüstung für Gesundheit» sein, oder das breitere Konzept «Abrüstung für Entwicklung». In der Tat wird eine signifikante Reduzierung der Militärausgaben die notwendigen Mittel freisetzen, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erreichen und den Genuss aller Menschenrechte für alle zu gewährleisten, einschliesslich und vor allem des Rechts auf Gesundheit, Nahrung, Wasser, Unterkunft, etc. Das Geld der Steuerzahler, das in Orwellschen «Massenüberwachungs»-Aktivitäten verschwendet wurde, wie sie von Edward Snowden enthüllt wurden,4 muss in soziale Dienste umgeleitet werden. In meinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat von 2014 habe ich aufgezeigt, wie das militärische Establishment schrittweise in Friedensindustrien auf allen Ebenen umgewandelt werden kann, wodurch viel mehr Arbeitsplätze in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen, Wohnungsbau, Umweltschutz und anderen sozialen Dienstleistungen geschaffen werden können.5

Eine Weltkonferenz über «Post-Covid Recovery» sollte Massnahmen ergreifen, um Steueroasen abzuschaffen und die Zahlung von Steuern durch Investoren und transnationale Konzerne ohne Scheinregistrierungen und «sweetheart deals» sicherzustellen.6 Das Versagen der neoliberalen Ideologie, die systematische Ausbeutung der Völker weltweit, die Zerstörung der Umwelt und die ständige Bedrohung durch das Wettrüsten, die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen, Forschungs- und Entwicklungsprogramme für tödliche autonome Waffensysteme und andere Fehlentwicklungen sind nur allzu offensichtlich geworden. Sicherlich wäre die Schwere der Covid-19-Pandemie wesentlich weniger tödlich gewesen, wenn die Regierungen eine auf die Menschenrechte ausgerichtete Wirtschaft eingeführt hätten, in der das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit Vorrang vor Marktspekulationen, dem Streben nach kurzfristigen Profiten und der sinnlosen Ausbeutung des Planeten bis hin zum Ökozid gehabt hätten, die heute das Wohlergehen von Milliarden von Menschen bedroht.

Einforderung eines neuen Gesellschaftsvertrag durch die Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft in allen Ländern sollte jetzt von ihren Regierungen einen neuen Gesellschaftsvertrag einfordern, der auf der Umsetzung der zehn zentralen UN-Menschenrechtsverträge basiert. Freilich ist die Aufgabe der Normsetzung nicht abgeschlossen, da die Kodifizierung der Menschenrechte nie endgültig und nie erschöpfend ist, sondern einen evolutionären «Mode d'emploi» für die Ausübung der bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte darstellt.

Leider wird die Auslegung und Anwendung der Menschenrechte durch einen sterilen Positivismus und eine bedauerliche Tendenz behindert, sich nur auf die individuellen Rechte zu konzentrieren und dabei die kollektiven Rechte zu vergessen. Es ist nur allzu offensichtlich, dass viele in der «Menschenrechtsindustrie» wenig oder gar kein Interesse an den sozialen Pflichten zeigen, die mit der Ausübung von Rechten einhergehen, und die notwendige Symbiose von Rechten und Pflichten, wie sie in Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert ist, nicht erkennen.

Recht ist weder Physik noch Mathematik, sondern eine dynamische menschliche Institution

Es ist an der Zeit, sich vom engen Positivismus wegzubewegen hin zu einem breiteren Verständnis von Menschenrechtsnormen im Kontext eines entstehenden Völkergewohnheitsrechts der Menschenrechte. Recht ist weder Physik noch Mathematik, sondern eine dynamische menschliche Institution, die sich Tag für Tag mit den Bedürfnissen und Bestrebungen der Gesellschaft auseinandersetzt, hier anpasst und dort Lücken schliesst. Jeder Menschenrechtsanwalt weiss, dass der Geist des Gesetzes (Montesquieu) über die Beschränkungen des Buchstabens des Gesetzes hinausgeht, und daher sollten kodifizierte Normen immer im Lichte jener allgemeinen Rechtsgrundsätze ausgelegt werden, die allen Rechtssystemen zugrunde liegen, wie Treu und Glauben, Verhältnismässigkeit, Estoppel, das Verbot von Gesetzen und Verträgen, die gegen die guten Sitten verstossen, die Grundsätze des «do no harm», ex injuria non oritur jus und sic utere tuo ut alienum non laedas. Der Buchstabe des Gesetzes darf niemals dazu benutzt werden, den Geist des Gesetzes zu untergraben und zu besiegen.

Eine Post-Covid-Konferenz für Wiederherstellung und Wiederaufbau

Ein neuer postkovidscher Gesellschaftsvertrag sollte dem Motto der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) folgen – si vis pacem, cole justitiam – um Frieden zu erreichen, ist es notwendig, Gerechtigkeit zu pflegen. Daher sollte eine Post-Covid-Konferenz für Wiederherstellung und Wiederaufbau die UN-Charta überdenken und multilaterale Massnahmen beschliessen, die das UN-System stärken, damit die drei Säulen Frieden, Entwicklung und Menschenrechte besser bedient werden. Virginia Dandan hat in ihrem Bericht an den Menschenrechtsrat von 2017 einen Entwurf für eine Erklärung zur internationalen Solidarität vorgelegt.7 Das ist genau das, was die Welt jetzt braucht. In der Tat, unsere Post-Covid-Prioritäten müssen darin bestehen, eine demokratische und gerechte internationale Ordnung zu erreichen, die auf Solidarität beruht und auf die Bedürfnisse aller Mitglieder der Menschheitsfamilie eingeht – nicht nur auf die Launen der 1% Reichsten.

Wenn Covid-19 nur noch eine Erinnerung ist, wird das Bedürfnis nach internationaler Solidarität immer noch da sein, das Bedürfnis, einander gerecht und vernünftig zu helfen, das Bedürfnis, andere Pandemien zu bekämpfen, den Hunger auszurotten, Bildung für den Frieden sicherzustellen, die Herausforderungen des Klimawandels anzugehen und eine demokratische und gerechte Weltordnung aufzubauen. Es wäre eine grosse Schande, wenn wir diese Gelegenheit verlieren, unsere Zukunft in die Hand zu nehmen, und wenn wir zulassen, dass das Weltwirtschaftsforum (WEF) seinen neoliberalen Betrug namens «The Great Reset Initiative»8 durchsetzt. Wir müssen «Nein» zum WEF sagen und nach Lösungen im wirklich progressiven und humanistischen Weltsozialforum9 und seinem Manifest von Porto Alegre suchen. Eine andere Welt ist tatsächlich möglich, aber wir müssen alle dafür arbeiten.

(Übersetzung aus dem Englischen «Schweizer Standpunkt»)

1 Siehe https://www.un.org/press/en/2020/sgsm20029.doc.htm; https://news.cgtn.com/news/2020-05-15/UN-chief-says-mankind-so-unprepared-for-COVID-19-Qvi8tVla2k/index.html; https://reliefweb.int/report/world/secretary-generals-un-covid-19-response-and-recovery-fund-april-2020; https://www.un.org/sg/en/content/sg/press-encounter/2020-03-25/launch-of-global-humanitarian-response-plan-for-covid-19

2 Mein Bericht 2017 an den Menschenrechtsrat (https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/36/40) und mein Bericht 2017 an die Generalversammlung (https://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/72/187) formulieren konkrete Vorschläge, wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds reformiert werden können, damit sie nicht länger «menschenrechtsfreie Zonen» sind.

3 Siehe die 23 Prinzipien der internationalen Ordnung, die in meinem Bericht 2018 an den Menschenrechtsrat formuliert wurden, Absatz 14,
https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/37/63

4 Snowden, Edward. Permanent Record. (Macmillan, 2019)

5 https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/HRC/27/51

6 Mein Bericht 2016 an die Generalversammlung war speziell der Kriminalisierung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung gewidmet, abrufbar unter
https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=A/71/286

7 https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Solidarity/DraftDeclarationRightInternationalSolidarity.pdf

8 https://www.weforum.org/great-reset

9 https://www.foranewwsf.org/gb/test/

Zurück